Schubert, F. (Koch, T)

Zukunftsmusik – Die letzten drei Klaviersonaten


Info
Musikrichtung: Romantik Klavier

VÖ: 03.07.2020

(musikmuseum / Note1 / 3 CD / DDD 2019/ Best. Nr. CD 13044)

Gesamtspielzeit: 143:47



KREISLERIANISCH

Zukunftsmusik: Hört man den ersten Satz von Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur, D 960, in der extrem weiträumigen und mit über 31 Minuten wohl sämtliche Dauernrekorde brechenden Einspielung von Tobias Koch, dann scheint diese vor rund 200 Jahren komponierte Musik tatsächlich wie ein Stück aus dem späten 20. Jahrhundert. Und dies trotz oder gerade wegen des historischen Instruments, eines Wiener Hammerflügels, das um 1835 von Conrad Graf gebaut wurde.
Dieser ungemein resonanz- und farbenreiche Klangkörper scheint Kochs Schubert-Verständnis noch einmal in besonderer Weise inspiriert, ja durchaus radikalisiert zu haben: Durch die diversen Pedalisierungen sind Klangfarbenschattierungen möglich, gegen die ein „perfekter“ moderer Steinway doch wesentlich ausgeglichener, um nicht zu sagen eintönig wirkt.
Insbesondere die mit den sogenannten Moderatoren, dämpfenden Filztüchern, erzeugten irisierend fernen oder fagottartig schnarrenden Töne sind von besondere Suggestivität – der Graf-Flügel klingt dann gewissermaßen wie eine romantische Vorahnung von John Cages präpariertem Klavier. Sphärisch-entrückte Töne mischen sich auf faszinierende Weise mit substanzreichen mineralischen Klängen, Sanftheit mit Rauhigkeit, Lyrismus mit perkussiver Kraft.

Anders als beim modernen Konzertflügel verfließen die Basstriller im ersten Satz der B-Dur-Sonate hier nicht, sie bleiben als Einzeltöne kenntlich und bilden dennoch ein klangfarbliches Kontinuum. Nicht nur sie vertragen ohne weiteres gedehnte Tempi und weite Räume von Stille um sich herum, in denen sie auf- und verklingen. Tatsächlich werden bei Koch die Pausen ebenso wichtig wie die hörbare Musik; die extrem ausgedünnten Texturen, die Schubert teilweise notiert hat, kommen auf diese Weise sowohl in ihrer sonoren wie expressiven Eigenart in besonderer Weise zu Geltung. Man höre nur den pointilistisch genommenen 2. Satz der besagten Sonate, die Einzeltöne wirken wie in die umgebende Stille gesetzte, singuläre Klangereignisse und verleihen diesen filigranen Miniaturen eine ungeahnte Weite und Offenheit. "Lento e deserto" hat György Ligeti dem 2. Satz seines Klavierkonzerts (1985-88) als Bezeichnung mitgegeben - die würde, bei allen stilistischen Unterschieden, auch auf die Schubert-Exegese von Koch passen. Die Musik wird hier zum Klangraum, fortlaufend entfaltet sich dieser zu einer regelrechten Klanglandschaft, in deren Ferne hinein sich die Töne verlieren können.
Und weitere Bezüge mag man in dieser "Zukunftsmusik" entdecken: Koch kann mit diesem Instrument Schuberts sich weiträumig entwickelnde Motivkreisel deutlich gegeneinander setzten, variieren und ausschärfen und sie – modern gesprochen – als „Patterns“ gestalten, die die späten Klavierwerke des amerikanischen Komponisten und großen Schubert-Bewunderers Morton Feldman anklingen lassen.

Wobei Schuberts Meditationen nie im Abstrakten verbleiben, nie nur Klang sind, sondern eben auch von psychodynamischer Kraft. Sie erzeugen nicht nur einen Klangraum, sondern einen seelischen Resonanzkörper.
Und auch hier gelingt Tobias Koch mit der Verlangsamung und Spreizung (aber eben nicht Verschleppung) zu Beginn von D 960 eine, paradox gesagt – sehr dichte, emotional und atmosphärisch gesättigte Wiedergabe, gerade weil die Musik und mit ihr der Hörer gewissermaßen unbegrenzt Zeit hat, zu sich zu kommen.
Kochs Einspielung der letzten drei Sonaten lebt indes nicht nur von einem starken Innensog wie in D 960, sie ist nicht nur kontemplative Versenkung. Es gibt ebenso spannungsvoll ausgeformte, dramatische, ausgreifende, an- oder vorwärtsdrängende Passagen und Sätze, z. B. das koboldhaft-unheimlich genommene Scherzo der A-Dur-Sonate D 958 oder die energischen Kontraktionen im Finale von D 959. Auch verliert Koch die großen Spannungsbögen, wiewohl über eindrucksvolle Pausenklüfte, abrupte Tempodifferenzierungen und aufrauschende Steigerungen geführt, nicht aus den Augen. Wenn die markante, mitunter trocken-scharfe Artikulation und weitgestaffelte Dynamik dazu führt, dass einzelne Motivgruppen und Abschnitte in besonderer Weise heraus-, ja ausgestellt erscheinen, so bleiben sie doch ein integraler Bestandteil des einzelnen Satzes.

Neben der Langsamkeit kennt diese Einspielung also auch das andere Extrem: Tänzerische Virtuosität, Rasanz, Wucht.
Die Kontrastierung, die Zuspitzung auf engem Raum ermöglicht es dem Hörer, die Vielschichtigkeit an Stimmungen und Ausdruckswerten in Schuberts finalen Sonaten als „Vereinigung der Gegensätze“ zu erleben: diabolische Heiterkeit, gelassene Trauer, verstörende Träumerei, unbändige Energie, ja Aggressivität noch im bewussten Absturz, im Untergang, der dann doch wieder aufgeschoben wird (oder doch nicht?). Hier hört man einen Schubert, der auch ein Zeitgenosse E. T. A. Hoffmanns war, der die Licht- und Nachtseiten der romantischen Seele erkundet. Da wirkt manches wie eine gewagte Klavier-Improvisation von Hoffmanns alter Ego, dem Kapellmeister Kreisler; ja, Schuberts Romantik ist in Tobias Kochs Darbietung auf aufregende Weise kreislerianisch, sie spielt über manche im Ohr verankerten interpretatorischen Grenzen hinaus, kann gleichzeitig ergreifend schön und erregend schauerlich, himmelhochjauchzend und todesbang, andächtig und dämonisch sein – Schuberts Musik bleibt dabei in jedem Fall: erschütternd lebendig, zeitlos modern.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 Klaviersonate c-Moll D 958 36:56
CD 2 Klaviersonate A-Dur D 959 49:10
CD 3 Klaviersonate B-Dur D 960 57:41

Besetzung

Tobias Koch, Fortepiano von Conrad Graf, Wien um 1835


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