Debussy, C. (Roth, F.-X.)

Pelléas et Mélisande


Info
Musikrichtung: Impressionismus Oper

VÖ: 04.03.2022

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / 3 CD / DDD / 2021 / Best. Nr. HMM 905352.54)

Gesamtspielzeit: 158:00



MARKSTEIN

Claude Debussys einzige, epochale Oper „Pelléas et Mélisande“ erscheint beim Label Harmonia Mundi erstmals „historisch informiert“ auf Tonträger, d. h. musiziert auf Instrumenten der Entstehungszeit. Das Orchester „Les Siècles“ verwendet darmbesaitete Streicher sowie Holz- und Blechbläser, wie sie um die Jahrhundertwende in französischen Orchestern in Gebrauch waren; selbst das Schlagzeug stammt aus historischer Produktion. Die Musiker und Sänger:innen sind natürlich von heute, ebenso der Dirigent François-Xavier Roth. Also: vokale Gegenwart und instrumentale Vergangenheit, vereint in einer zeitgenössischen Interpretation des „Urtexts“ von Debussys Partitur. Das schließt nicht nur die vom Komponisten für die bühnentechnischen Umbauphasen nachträglich verlängerten instrumentalen Zwischenspiele mit ein, sondern auch einige Takte der 4. Szene des 3. Aktes, die seinerzeit aus Schicklichkeitsgründen der Zensur zum Opfer gefallen waren (Golaud fragt seinen Sohn Ynold, den er durch das Schlafzimmerfenster blicken lässt, ob Pelléas und Mélisande sich (noch) neben dem Bett befinden …).

Bereits der Livestream der Inszenierung aus der Oper von Lille, der im vergangenen Jahr für einige Monate auf Youtube frei verfügbar war, sowie eine Tournee-Fassung (mit weitgehend anderer vokaler Besetzung) kündigten eine bemerkenswerte neue Produktion an. Und die hifiakustische Nahaufnahme dieses coronabedingt ohne Publikum in Lille entstandenen Mitschnitts enttäuscht nicht: Eine musikalisch hochrangige Interpretation, die im Instrumentalen geradezu süchtig machen kann und im Vokalen sehr überzeugt.

Da ist zunächst das ausgesprochen delikate und zugleich profunde Orchesterspiel, das durch eine herrlich durchsichtige Klarheit für sich einnimmt – doch ohne, dass man Abstriche bei den stets wechselnden atmosphärischen Stimmungen der Musik in Kauf nehmen müsste. Die orchestralen Zwischenspiele geraten so zu den heimlichen Höhepunkten der Aufnahme.
Die samtfeinen Streicher tragen und umhüllen die Stimmen, riskieren vibratolose Makellosigkeit und unwirkliches Schweben. Nicht weniger subtil die Bläserstimmen, die sich ihre charakteristischen, leicht nasalen Eigenarten bewahrt haben. Dazu kommen Erard-Harfen und fellbezogene Pauken. Beim Metallschlagschlagzeug fällt noch der weniger durchdringende, leicht körnige Klang auf.
François-Xavier Roth und Les Siècles breiten damit einen opulent schillernden Klangfarbenteppich aus, mal schattenhaft vibrierend im äußersten Pianissimo, dann wieder im markigen Forte herausfahrend und die gar nicht wenigen dramatischen Höhepunkte klangvoll akzentuierend. Die breite des Spektrums, das hier realisiert wird, ist bemerkenswert.
Nicht zuletzt die aktiven Tempi und die rhythmische Präzision, die Roth anschlägt, tragen dazu bei, dass sich die tiefenpsychologische Dramaturgie dieses seltsamen Werkes mit innerer Konsequenz realisiert. Den Figuren aus Maurice Maetlincks Drama widerfährt buchstäblich ihr Geschick, sie treiben im Strom der Klänge – den sie gleichwohl durch ihre Aktionen, ihre gesungenen Worte in steter Bewegung halten, Vorahnungen, Resonanzen und Echos auslösen. Eine gewisse Morbidezza, die dieser Oper ansonsten schnell anhaftet, gar ein somnambules Verdämmern im Klang – all das gibt es hier nicht. Debussys „Fin de Siècle“-Musik erscheint in Roths Deutung als Tor zu einer neuen Zeit, als Auftakt zu einer neuen Musik, die voller bis dahin unerhörter formaler Spontaneität und harmonisch-farblicher „suspense“ ist.

Die frankophonen Sänger:innen bilden ein homogenes Ensemble: Julien Behrs Pelléas ist kein hoher Bariton, wie ursprünglich von Debussy vorgesehen, sondern ein dunkler, klarer und frischer Tenor, frei von aller asthenischen Nervosität – und dadurch der ätherisch-lichten und zugleich erstaunlich energetischen Mélisande von Vannina Santoni näher als dem elegant-virilen Bariton von Alexandre Duhamels Golaud.
Dieser deutlichere Registerkontrast sorgt zwischen den beiden ungleichen Halbbrüdern für zusätzliche Spannung, wobei Duhamel aus Golaud einen sehr menschlichen „bad guy“ macht, vielleicht den menschlichsten Charakter der ganzen Oper. Mag ihre unmögliche Liebe sich auch nicht erfüllen: Pelléas und Mélisande haben sich gefunden und sind sich ihrer letztlich sicher. Aber Golaud war und ist unter allen Figuren vielleicht die einsamste, verlorenste; er bleibt am Ende gebrochen zurück – und wie Duhamel diese Verlorenheit mit ersterbender Stimme im 5. Akt aussingt, bevor er die dem Tod geweihte Mélisande erneut mit hilfloser Vehemenz bedrängt, ist sehr bewegend.
Vannina Santoni Mélisande hat bei aller immer wieder spürbaren Fragilität und Sensibiltät ihres Charakters einen leuchtenden, unzerstörbaren vokalen Kern, der gleich zu Beginn in der ersten Begegnung mit Golaud aufflammt. Ihr „Berührt mich nicht!“ hat Autorität, ja Aggressivität und wird in der rhythmischen Pointierung gesungen, die Debussy hier notiert hat. Wie auch sonst in dieser ersten Szene der interpretatorische Drive bezwingend ist, darin die Unaufhaltsamkeit des folgenden Dramas vorwegnehmend.
In den Dialogen berühren Santoni und Behr durch ihre Natürlichkeit, mit der sie interagieren – sie schenken ihre Figuren wirklich eine Wahrhaftigkeit, Unschuld und Reinheit, die unmittelbar zu Herzen gehen.
Jean Teitgens Arkel ist von bassdunkler, fast jenseitiger Autorität und strahlt zugleich Wärme aus; Marie-Ange Todorovitch verleiht der Geneviève eine herbe, aristokratische Mütterlichkeit. Dass die Rolle des kleinen Ynold von einem Knabensopran gesungen wird, schenkt den heiklen Szenen im 3. und 4. Akt einen Moment von authentischer kindlicher Verletzlichkeit, auch wenn Hadrien Joubert naturgemäß nicht über das stimmliche Durchsetzungsvermögen knabenhafter weiblicher Sopranstimmen verfügt, wie sie heute üblich sind.

Diese bemerkenswert atmosphärische und menschliche, instrumental wie vokal sinnlich und sinnig ausbalancierte und im besten Sinne französische Einspielung von Debussys Meisterwerk bereichert die vielfältige Pelléas-Diskographie um einen weiteren Markstein.



Georg Henkel



Besetzung

Vannina Santoni, Julien Behr, Alexandre Duhamel, Marie-Ange Todorovitch, Jean Teitgen

Chœurs de l’Opéra de Lille

Les Siècles

François-Xavier Roth, Leitung




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