Ein normales Editorial ist in diesen Tagen kaum denkbar. Musikansich.de ist kein Polit-Magazin. Aber angesichts dessen, was in den letzten Tagen im Stundentakt passiert ist, können auch wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Eine Regierung, an der eine Partei teilhat, die ihre Existenz zu einen nicht unbeträchtlichen Teil der Friedensbewegung der späten 70er und frühen 80er Jahre verdankt, die mit dem Slogans „Ohne Waffen leben“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ Jahr für Jahr Hunderttausende auf die Straßen brachte, und eine Partei, die die Regierungsverantwortung an eine 16-jährige Kohl-Regierung verlor, weil sie den Friedenshunger der bundesdeutschen Bevölkerung unterschätzt hatte, kippt innerhalb weniger als einer Woche fundamentale Grundsätze deutscher (Friedens)-Politik, die Jahrzehnte lang gegolten haben.

Die Zurückhaltung beim Rüstungsetat, die seit Jahren gegen das massive Insistieren (nicht nur) der USA durchgehalten wurde, Schnee von gestern. Statt keine Waffenexporte in Krisengebiete zu genehmigen, liefert die Regierung selbst Waffen in einen heißen Krieg. Mehr noch: Der Bundeswehr soll ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, eine Summe, bei der viele Menschen wahrscheinlich erst einmal nachschlagen müssen, wieviel Nullen sie denn nun hat.

Und es gibt keine Proteste der Friedensbewegung. Im Gegenteil: auf der wohl größten Friedensdemo seit Beginn der 80er Jahre werden explizit Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert. Und ja, es ist wohl unvermeidbar so. Putin, der kleine Mann mit dem großen Ego, spielt eiskalten Machtpoker mit der ganzen Welt. Sein Vertrauen darauf, dass der Westen – und nicht nur der – es nicht wagen wird, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen, lässt ihn den ersten heißen Krieg in Europa (wenn man den Bürgerkrieg in dem zerfallenden Jugoslawien einmal ausklammert) seit dem zweiten Weltkrieg vom Zaun brechen.

Es ist ein mehr als heißes Eisen, welche Mittel EU, NATO und andere gegen Putin einsetzen sollen. Die Reaktionen des Potentaten sind unberechenbar – gerade, wenn er sich irgendwann in die Enge gedrängt fühlen sollte. Aber eins ist klar: Die Ukraine darf nicht allein gelassen werden! Das würde Putin nur ermuntern, weitere „verlorene“ Gebiete zurück zu fordern und zu holen. Wir erinnern uns nur zu gut: Bei dem letzten "kleinen Mann" folgten nach Österreich das Sudetenland, Polen und dann ganz Europa. Das Bonmot „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn’s dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ ist eher zu banal für das, was derzeit geschieht, trifft den Mechanismus aber nur zu genau.

Putin müssen Grenzen gesetzt werden - mit der Hoffnung, dass damit die Forderungen, Hoffnungen und Ziele der Friedensbewegung(en) nicht für Jahrzehnte zurückgeworfen werden. Egal was getan werden muss, um das Schlimmste in Europa zu verhindern, der Traum vom Frieden muss weiter leben. Die Friedensfahne muss weiter wehen, damit der Krieg irgendwann einmal aufhört, ein Mittel der (Macht)Politik zu sein. Die Friedensfahne muss weiter wehen, als ständige kritische Anfrage an alle repressiven Mittel – zwischen Staaten, im Namen der Staatsgewalt, in der Gesellschaft und zwischen Menschen.

Norbert von Fransecky