Lully, J.-B. (Fuguet, St.)

Dies Irae – O Lachrymae – De Profundis


Info
Musikrichtung: Barock geistliche Musik

VÖ: 05.02.2021

(Chateau de Versailles Spectacles / Note 1 / CD / 2020 / Best. Nr. CVS032)

Gesamtspielzeit: 69:25



BAROCKE TRÄNENFLÜSSE

Musik, die buchstäblich in Tränen schwimmt: So hört man es, ergreifend und ungewohnt, auf dieser Neuaufnahmen mit drei Grand Motet von Jean-Baptiste Lully aus der Hofkapelle in Versailles. Die Mottete „O Lachrymae“ beschwört Buß- und Reue-Tränen in barocker, affektgeladener Manier, mit einer weitausholenden theatralischen Gestik und kunstvoll ausgearbeiteten Details. Die Musik ist von dissonanzgesättigter Schwere; die Orchesterintroduktion mit ihrer durch Serpent, Quartfagott und einem kontrabassgroßen "grosse basse de violon" verstärkten Basslinie wirkt wie ein Mahlstrom. Diese Musik ist von jener erhabenen Grandeur, die typisch ist für den Versailler Hofstil, den Lully mit seinen monumentalen musikalischen Architekturen wesentlich geprägt hat. Neu ist die Intensität, mit der der Notentext hier durch Akzidentien aufgeladen wird – doch ebenso wie der Dekor bei einem barocken Schloss wesentlich für den Gesamteffekt ist, so auch in der Musik jener Zeit.

Stéphane Fuget, Gründer und Leiter des Ensembles „Les Épopées“, erkennt in der Partitur so etwas wie einen Grundriss der Musik, der durch eine reiche Ornamentik ausgestaltet werden muss, um seine ganze Wirkung zu entfalten. So schärfen in dieser Einspielung Mikrotöne die Harmonik weiter aus, die Stimmverläufe fangen an zu schwingen, mitunter regelrecht zu fließen, z. B. in den zwischengeschalteten Blockflötenensembles, die die besagten Tränenflüsse geradezu illustrativ abbilden und vom Chor aufgenommen werden – dies alles, um den Zuhörer in die entsprechende reuevolle Gestimmtheit zu versetzen und dessen eigene Tränen zum fließen zu bringen – was, glaubt man den historischen Quellen, bei Aufführungen auch durchaus gelang.

Die Tonhöhen werden von den Interpreten als Deklamationshöhen gedeutet. Eine empathische Tongebung und reich schattierte Klangfarben sind mindestens so wichtig wie plötzliche starke Kontratste bei den Tempi und der Artikulation, die Skala reicht von feierlich-getragen bis zu leidenschaftlich-insistierend. So bewegt man sich hörend durch unterschiedlich ausgestattete "Gefühlsräume", pendelt z. B. im eröffnenden „Dies Irae“ zwischen Höllenschrecken und Gnadenflehen hin- und her: Bedrohlich der „sägende“ Tenoreinsatz in der Eröffnung, gewalttätig stampfend das „Tuba mirum“, erschütternd die schluchzenden „Rex“-Rufe des Chores. Von entrückter Zartheit dagegen das „Lacrimosa“. Angstlust pur. Ob das wirklich so geklungen hat im 17. Jahrhundert? Als heutiger Hörer zumindest kann man sich dem Effekt kaum entziehen …

Auf dem nämlichen Niveau bewegt sich die Darbietung des „De Profundis“: Monumental der Beginn mit der dreifachen Invokation von Solo-Bass, -Tenor und schließlich dem gesamten Ensemble, die herausgestoßenen „Domine“-Rufe des Chores und einzelner Stimmen, die Musik schraubt sich aus der Tiefe in die Höhe, erreicht dabei eine mitreißende Energie und Durchschlagskraft.
Fuget kann bei seinen Musiker*innen aus dem Vollen schöpfen, viele der Sänger*innen, wie Claire Lefilliâtre, Cyril Auvity, Marc Mauillon oder Benoît Arnould, sind bekannte Protagonisten der Alte-Musik-Szene Frankreichs. Sie und andere treten immer wieder auch als Solist*innen hervor, so dass jeder Einsatz seine individuelle Farbe bekommt. Das Orchester steht dem nicht nach: Man kostet die Rauigkeit der alten Instrumente aus, treibt die Singstimmen in den schnellen, virtuosen Passagen an und trägt sie über die großen, langsamen Bögen. Lullys Kontrapunkt, der schnell etwas flächig und monolithisch wirken kann, wird hier von innen heraus belebt, das Changieren der Einzelstimmen erfüllt ihn mit einem sinnlichen Glosen. Bei all dem frappiert die Geschlossenheit und organische Gesamtwirkung, die Musik verliert bei allem Detailreichtum nichts von ihrer Wucht. Geadelt wird dieser Eindruck durch die imposante Akustik der Versailler Schlosskapelle.

Dieser erste Teil einer geplanten Gesamtaufnahme will sich bewusst von "textreueren" Aufnahmen absetzen. Gerne hätte man noch mehr erfahren – die Quellen, die Fuget in seinem Text anführt, lassen nur indirekte Schlüsse auf Lullys eigenen Vokal- und Instrumentalklang zu. Und ein 16-Fuß-Instrument, als das hier der grosse basse de violon fungiert, war zu Lullys Lebzeiten nicht üblich, ein Kontrabass kam erst ab 1700 gelegentlich im Opernorchester zum Einsatz. Aber das sind Spezialfragen.
So oder so muss das Ergebnis immer spekulativ bleiben, dieser Einwand begleitet die historisch-informierte Aufführungspraxis seit ihren Anfängen – was nicht ausschließt, dass es heute überzeugt. Wie in diesem Fall: Erhabenheit und Leidenschaft, französischer Klassizismus und barockes Theatrum Sacrum finden in der maßstäblichen Einspielung von „Les Épopées“ auf überwältigende Weise zusammen.



Georg Henkel



Trackliste
Dies Irae
O Lachrymae
De Profundis
Besetzung

Chor und Orchester Les Épopées

Stéphane Fuget



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