Musik an sich


Reviews
Stockhausen, K. (Avery, Schick, red fish blue fish)

Sämtliche frühe Werke für Schlagzeug


Info
Musikrichtung: Neue Musik Schlagzeug

VÖ: 16.01.2015

Mode Records / Harmonia Mundi / 2 CD (DDD) oder 1 DVD / 2008 / Best. Nr. mode 274

Gesamtspielzeit: 103:37


Luxuriös: Karlheinz Stockhausens frühe Kompositionen für Schlagzeug erscheinen in bemerkenswerten Neuaufnahmen beim Label mode records - und zwar zeitgleich auf einer Doppel-CD und einer einzelnen DVD, die nicht nur mit bewegten Bildern und höchster klanglicher Auflösung sondern im Fall der legendären KONTAKTE mit einer Surround-Sound-Version punktet, die er erlaubt, das Stück wie in einem Konzert zu hören: nicht stereophon verflacht, sondern quadrophon verräumlicht. Vorausgesetzt, man verfügt über die entsprechenden Wiedergabemöglichkeiten.

KONTAKTE ist eines der Schlüsselwerke Stockhausens und ein Meisterwerk der Musik des 20. Jahrhunderts: Ein Schlagzeuger und ein Pinanist spielen zusammen mit einer vierkanaligen elektronischen Raummusik, die vom Tonband kommt, und alles zusammen erschafft eine einmalige Klangwelt, in der sich fremdartige elektronische Sounds der instrumentalen Klangwelt annähern und umgekehrt. Das hat auch nach Jahrzehnten nichts von seiner Frische verloren. Stockhausens Klangfantasie und seine Fähigkeit, ganz abstrakt komponierte Strukturen mit einem Maximum an Sinnlichkeit, Gestalthaftigkeit und geradezu dramatischer Präsenz aufzuladen, sichert dem Werk seine zeitlose Wirkung. Hier tönt nichts steril oder gekünstelt. Bereits die Stereoversion stellt dies eindrücklich unter Beweis; die eigens für die Produktion frisch überspielten Bänder mit der elektronsichen Musik klingen detailreich, plastisch und bass-satt und man möchte angesichts des nicht vorhandenen Rauschens kaum glauben, dass es sich um ein Werk aus den 1950er Jahren handelt. Gegenüber dieser digitalen Neuaufnahme kann Stockhausens eigene Produktion aus dem Jahr 1968 allerdings immer noch problemlos bestehen (www.karlheinzstockhausen.org): Obwohl beide Einspielungen von gleicher Dauer sind, erscheint die jüngere Version mitunter schneller, unruhiger und aggressiver, während Stockhausens Fassung v. a. in den Tutti-Passagen etwas entspannter und durchhörbarer wirkt.
Der inzwischen verstorbene Pianist James Avery sowie der Schlagzeuger Steven Schick beherrschen die komplexe Partitur vollkommen; KONTAKTE ereignet sich bei ihnen mit der spielerischen Leichtikgeit einer hochpräzisen Improvisation. Die Kameraperspektive zeigt die Interpreten in der Totalen übrigens bevorzugt von schräg links - dadurch geht etwas von der Quasi-Symmetrie der Instrumentenaufstellung verloren, die sich um einen zentralen Gong bzw. ein Tamtam gruppieren.

Weitere Klassiker dieser Produktion sind das frühserielle SCHLAGTRIO für sechs Pauken und Klavier, das bei aller grauschwarzen Abstraktion durch seine streng rituelle Spannung für sich einnimmt, sowie das ungleich farbigere Schlagzeugsolo ZYKLUS. Steven Schicks Version ist technisch ausgefeilt und virtuos, trotzdem besticht auch in diesem Fall die sehr viel ältere Aufnahme von Christopher Caskel durch eine noch prononciertere Artikulation und voll ausgesteuerte analoge klangliche Präsenz: Man spürt hier noch deutlicher die klangliche Logik dieser scheinbar so formalen Musik. ZYKLUS ist auch eine Augenmusik. So frappiert auch hier der optische Mehrwert der DVD gegenüber der CD-Version. Stockhausens Musik ist schon von Anfang an szenisch konzipiert - und wenn er bei den bei den beiden Zwölftonreihen des SCHLAGTRIOS von "Wesen" spricht, dann erkennt man, dass bereits hier die Wurzeln für die späteren LICHT-Opern liegen.

In eine stille, kristalline Klangwelt entführt REFRAIN für Klavier, Celesta und Vibraphone. Je nachdem, wo der der rotierende Refrain, der dem Stück seinen Namen gibt, im Voraus in der Partitur platziert wird, verändert sich das Stück; Stockhausen war mit seiner eigenen Interpretation nie ganz zufrieden und hat später noch eine bis ins Detail ausgeschriebene Fassung unter dem Titel 3 x REFRAIN 2000 erstellt. Demgegenüber wirkt die Urversion einfacher, hat aber aufgrund der brillanten, mit verschiedenen vokalen Einwürfen gemischten Klänge ebenfalls ihren Reiz. Die Neueinspielung realisiert die Vermischung von instrumentalen und vokalen Klangfarben perfekt. Doch auch hier schneidet die viel ältere analoge Stockhausen-Einspielung nicht schlechter ab; im Ganzen wirkt sie geheimnisvoller und sinnlicher, weil die Instrumente länger und voller ausklingen können: die Musik hat mehr Zeit, um zu atmen.

In den 1960er Jahren experimentierte Stockhausen mit offenenren Notationsformen und extremen Klangmitteln. Mit der MIKROPHONIE I für Tamtam (6 Spieler), 2 Mikrophne, 2 Filter und Regler hat er nicht nur dieser exotischen Riesenform des Gongs, sondern auch den denkbar ungewöhnlichsten Gerätschaften aus der Küche seiner ersten Frau Doris ein Denkmal gesetzt: Um die geforderten Klangmomente - heulend, flüsternd, kreischend, fauchend, brüllend usw. - zu kreieren, hat Stockhausen mit seinen Interpreten schon damals diverse Löffel, Gabeln, Messer, Topfdeckel, Schneebesen und Gläser verwendet. Die finden sich auch in der Interpretation durch das Ensemble red fish blue fish; und nicht nur das: vom Styroporklotz über Papprohre, von den Felgen eines Fahrrades bis hin zur direkt auf das Tamtam geblasenen Trompete oder einem am Rand geriebenen Riesenkamm haben sie eine wahrlich abenteuerliche Kollektion von Hilfsmitteln zusammengetragen. Genau nach Partituranweisung werden die erzeugten Klänge mit den beiden Mirkophonen an bestimmten Stellen und bei wechselndem Abstand aufgenommen, gefiltert und geregelt. Die Wirkung ist oft im wahrsten Sinne unerhört, irgendwo zwischen einer elektronischen Phantasmagorie, Sauriergehege und und Großbaustelle. Bei allen Unterschieden im Detail folgt auch diese Interpretation erkennbar der von Stockhausen ersonnenen Form. Es erreicht mitunter brachiale Lautstärken und extreme Frequenzbereiche - dass angesichts dieses Inputs die Filter zu knistern anfangen, muss man wohl in Kauf nehmen.
An der starken Gesamtwirkung ändert dies nichts. Der vorzgüliche Einführungstext von Steven Schick trägt seinen Teil dazu bei, dass der Hörer einen Zugang zu Stockhausens Klangwelt findet.



Georg Henkel



Trackliste
CD I

1. Schlagtrio (1952, rev. 1974) 16:08
2. Refrain (1959) 10:15
3. Kontakte (1958-60) 35:00

CD II

1. Zyklus (1959) 10:30
2. Mikrophonie (1964) 31:44

Auf der DVD gibt es noch umfangreiches Bonus-Material in Form von Interviews mit den Interpreten.
Besetzung

James Avery / Katalin Lukács: Klavier
Steven Schick: Schlagzeug
Pavlos Antoniadis: Celesta
Ensemble red fish blue fish


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