Raachermannel mit Handbremse: Die Big Band der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz spielt ein Welcome Santa Claus! betiteltes Weihnachtskonzert




Info
Künstler: Big Band der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz

Zeit: 18.12.2018

Ort: Chemnitz, Opernhaus

Fotograf: Nasser Hashemi

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Die 2007 gegründete Big Band der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz hat der Rezensent in den vergangenen Jahren mehrfach live erlebt, und der interessierte Leser findet die zugehörigen Reviews auf www.crossover-netzwerk.de – das waren aber bisher „Sommerkonzerte“ jeweils am Saisonende im Juni. Ein solches gab es anno 2018 nicht, dafür aber nun sechs Tage vor Heiligabend eins unter dem Titel Welcome Santa Claus!, dessen Setlistausrichtung zu erraten wenig Mühe bereiten dürfte. Anno 2017 hatte bereits ein analoges Konzert stattgefunden, damals mit dem Gesangsensemble VocaBella und vor dem üblichen Bühnenbildhintergrund mit Straßenzug und Kneipe (siehe Foto). Auch 2018 sind Gäste dabei, wie das bei der Big Band so Tradition ist – aber der Bühnenhintergrund ist ein anderer: Am Folgeabend findet die 226. (!) Vorstellung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel statt, und so blickt das Publikum diesmal in einen eher unwinterlichen Wald mit einer grünen Rasenfläche im Vordergrund, hinter der sich ein Knusperhaus erhebt. Direkte Repertoireauswirkungen besitzt diese Konstellation freilich nicht: Humperdinck bleibt in der Setlist abwesend, und es gibt auch keinen Querverweis in Richtung Otto Waalkes, der mittlerweile mehr als 50 Songs „knusperhausifiziert“ hat, von „Ich will Spaß“ über „Atemlos“ bis zu „Aber bitte mit Sahne“.
Statt dessen erleben die Anwesenden im gut gefüllten, aber nicht ausverkauften Opernhaus einen bunten Streifzug durchs adventliche und weihnachtliche Repertoire hauptsächlich englisch-amerikanischer Prägung, ergänzt durch drei deutsche Klassiker und einen Ausflug nach Spanien: Léo Delibes’„The Maids Of Cadiz“ fällt mit seinem nocturne-artigen Charakter auch stilistisch etwas aus dem Rahmen, wirkt aber gerade dadurch als willkommener Farbtupfer und enthält nicht nur düstere, sondern auch einige recht schräge Momente. Hier agiert die von Rolf von Nordenskjöld geleitete Big Band rein instrumental, was in der ersten Programmhälfte stets im Wechsel mit einer Gesangsnummer geschieht. Bei selbigen kommen dann die diesmaligen Gäste zum Zuge, vier an der Zahl und strukturell völlig anders gepolt als sonst: Hatte man üblicherweise arrivierte und gestandene Musikerpersönlichkeiten als Gastvokalisten eingeladen, so kooperiert die Formation diesmal mit der Städtischen Musikschule Chemnitz, die alle vier Solisten mal besucht haben oder noch besuchen. Marie-Luise Weber, Valentin Kuhn und Hannah Seifert dürfen sich jeweils mit einer Solonummer vorstellen, Johanna Ranft besetzt die vierte Gesangsnummer des ersten Teils, allerdings als Leaderin des weiblichen Trios in „Sleigh Ride“, wobei sie in der Tat auch die kräftigste Stimme besitzt. Dafür werfen ihre beiden Mitstreiterinnen andere Qualitäten in den Ring: Hatte man sich schon bei Marie-Luise Weber in „Santa Claus Got Stuck In My Chimney“ ein wenig über ihre warme, leicht rauchige Altstimme gewundert (das Mädel ist 23), so klappt die Kinnlade bei Hannah Seifert in „All I Want For Christmas“ noch weiter runter – wir hören in dieser flotten Popnummer zwar keine zweite Mariah Carey, aber doch eine Stimme, die viel älter klingt als die gerade mal 15, die biologisch hier zu Buche stehen, und obwohl Hannah auch einige kleine Schwierigkeiten in der Treffsicherheit offenbart, überzeugt sie doch gleich mit intensivem Ausdruck in der a cappella gesungenen ersten Strophe. Bleibt als männlicher Solist Valentin Kuhn – und auch der klingt viel älter als die 20, die er ist: Man glaubt eine alte Soulstimme zu hören, die im Vokalisensolo allerdings auch noch erstaunliche Höhen erreicht, und wenn man die Augen wieder aufmacht, sieht man wieder einen jungen Mann, der optisch an einen Mix aus Robert Plant und dem brasilianischen Fußballer David Luiz erinnert. Dass eine etwas zu zurückhaltende Abmischung der Mikrofone für zumindest einen Teil der scheinbaren „Stimmalterung“ verantwortlich sein könnte, steht freilich auch noch im Bereich des Möglichen und muß Menschen zu ergründen vorbehalten bleiben, die die Solisten schon in anderen (Konzert-)Situationen erlebt haben.
Was in dieser ersten Sethälfte auffällt, ist die starke Komprimierung der Arrangements, auch die wechselnden Instrumentalsolisten agieren sehr kompakt, keiner gibt dem Affen richtig Zucker und löst die gefühlt angezogene Handbremse, und schrägerweise sehen alle drei Solistinnen, was die Kleiderwahl angeht, so aus, als ob sie wahlweise den 1920ern, 1950ern oder 1970ern entsprungen und schon dort völlig außermodisch gepolt gewesen sind. Ob dieser Eindruck gewollt war, muß offenbleiben – Moderator Jakob Brenner, Kapellmeister-Neuzugang in Chemnitz, der launig durchs Programm führt und dessen Interaktion mit dem Beleuchter zum Running Gag des Abends wird, lebt jedenfalls deutlich im Hier und Jetzt und hat sich zudem persönlich weiterentwickelt: 2017 war er noch an der Aufgabe gescheitert, „Wenn es Raachermannel naabelt“ gemeinsam mit VocaBella zu intonieren (er ist zugezogener Bayer) – 2018 bietet er die erste Strophe plus dem Refrain in angejazzter Kunstlied-Manier, am Klavier begleitet von Volker Braun, dar und löst damit mitten im zweiten Set den Knoten, der bisher irgendwie um die Darbietung gebunden war, wofür die Band ab „Vom Himmel hoch“, Opener des zweiten Sets, schon ansatzweise Vorarbeit geleitet hatte. In „Baby, It’s Cold Outside“ hört man während seines Solospots Vibraphonist André Schieferdecker auch endlich mal (der Ärmste steht in fast allen Konzerten der Big Band im Sound-Abseits, auch an diesem Abend sieht man ihn zwar spielen, nimmt ihn aber akustisch nur selten wahr), und die aktuelle Sexismus-Debatte, die einige überkorrekte Alles-Hinterfragen-Müsser in den USA zu dieser Nummer angestoßen haben, tangiert die Chemnitzer berechtigterweise nicht im geringsten. So richtig Stimmung kommt auf wie vor der Bühne aber erst nach der „Raachermannel“-Einlage auf: „O Tannenbaum“ ist endlich, endlich mal etwas ausladender, furioser, spielfreudiger als die bisherigen allesamt gutklassigen, aber eher glanzlosen Darbietungen, in „I’ll Be Home For Christmas“ versöhnt der Gänsehaut-Anfang problemlos mit dem etwas unentschlossen wirkenden restlichen Arrangement, und der erste der beiden Haupttrümpfe des Programms hat erst ganz kurzfristig den Weg in selbiges gefunden und erklingt als Uraufführung: Volker Braun, hier Pianist, im normalen Orchesterdienst aber eigentlich Oboist, baut „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ in ein flott-flockiges, hochgradig unterhaltsames, ausladendes, spannendes und energiestrotzendes Arrangement um, nach dem das Auditorium vor Freude förmlich kopfsteht und prompt mit dem anderen Trumpf konfrontiert wird: Die drei Solistinnen verwandeln sich in die Pointer Sisters und schmettern „I’m So Excited“ in die Runde, was man allen Beteiligten hier bedenkenlos abnimmt. Weil Valentin Kuhn hier vokal nicht gebraucht wird, wechselt er an die E-Gitarre und darf mit selbiger auch noch solieren, zudem kommt Henrik Lehmann, der die vier Solisten auf das Konzert vorbereitet hat, mit auf die Bühne und übernimmt das Klavier, während Volker Braun die Hammondorgel bedient. Auch diese Nummer sorgt im Rund für Hochstimmung, so dass zwei Zugaben folgen. In der Gesamtbetrachtung bleibt aber doch ein etwas merkwürdiger Eindruck zurück – von den in der zweiten Hälfte des zweiten Sets konzentrierten absoluten Glanzlichtern hätte man sich auch in den anderen Teilen noch das eine oder andere weitere gewünscht. Vielleicht 2019 (falls das Projekt noch einmal aufgelegt wird)?


Setlist:
Santa Claus Is Coming To Town
Santa Claus Got Stuck In My Chimney
The Maids Of Cadiz
Jingle Bells
Winter Wonderland
All I Want For Christmas
Hark! The Herald Angels Sing
Sleigh Ride
--
Vom Himmel hoch
Santa Baby
Baby, It’s Cold Outside
Blue Christmas
O Tannenbaum
I’ll Be Home For Christmas
Morgen, Kinder, wird’s was geben
I’m So Excited


Roland Ludwig



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