Musik an sich


Reviews
Xenakis, I. (Tamayo)

Orchesterwerke I und II


Info
Musikrichtung: Neue Musik Orchester

VÖ: 01.07.2009

Timpani / Note 1 CD / DDD / 2000/2001 / Best. Nr. 1C1164 (I) und 1C1158 (II)



(NICHT NUR) FÜR HARTGESOTTENE

Irgendwie ist es ganz passend, dass die Orchesterwerke von Iannis Xenakis bei einem Label erscheinen, das Timpani (Pauken) heißt und selbige im Logo trägt. Der Grieche hat seine oft perkussiv wirkende Orchestermusik wie mit der Löwenpranke komponiert: Ungebärdige Kraft und rationale Schärfe ergeben eine Mischung, die im gleichen Augenblick faszinierend, mitreißend und unaushaltbar ist. Wie der Komponist große, scharfkantige Klangmassive aus Streichern und Blech in steter Bewegung und Verwandlung hält und souverän zu manchmal recht brachialen Architekturen disponiert, verleiht seiner Musik ein unverwechselbares Profil. Oder diese endlosen Glissandoströme der Streicher (z. B. der herrliche, ungemein ausdrucksvolle Beginn von Jonchais, oder auch Schaar, beide Vol. II), die den Tonraum oft bis an die oberen Hörgrenzen ausreizen. So klingt das Licht. Man glaubt, durch den Hyperraum zu fliegen – um dann plötzlich in den Malstrom eines Schwarzen Lochs zu stürzen. Diese Konzentration auf den reinen Klang kann einerseits ausgesprochen sinnlich, ja orgiastisch wirken (die aufeinanderprallenden Donnerrhythmen von Jonchaies, Vol. II, lassen Stravinskys Sacre wie einen lockeren Reigentanz erscheinen). In seiner lärmigen Abstraktion kann die Musik aber auch Hörer auf Distanz halten (Nooemna, Vol. I, klingt nach einstürzenden Hochhäusern). Wo war noch der Notausgang?

Hinter den gewalttätigen, dissonanten und geräuschhaften, dann wieder überraschend lyrischen und klaren Material-Kulminationen waltet ein Dämon, bei dem noch nicht entschieden ist, ob er himmlischen und unterweltlichen Ursprungs ist. Titel wie Jonchais, Aïs, Tracées oder Noomena verweisen auf archaische mythische Welten ebenso wie auf die Klangmaterie selbst, aus der der Mathematiker und Architekt Xenakis baut. Doch selbst im größten Tumult sind die Stücke noch einigermaßen übersichtlich. Leicht zu identifizierende Klangflächen, -blöcke und –räume sind an die Stelle der klassischen Themen getreten und reagieren miteinander. Die delikaten Klangmischung der französischen oder der serielle Konstruktivismus der deutschen Avantgarde haben Xenakis nicht interessiert (und umgekehrt wurde er von seinen Kollegen aus Darmstadt und Donaueschingen lange Zeit nicht akzeptiert). Dennoch finden sich auch bei Xenakis komplexe Polyphonie, verzahnte Rhythmik und die ungewöhnlichsten, an elektronische Musik erinnernden Klangfarben. Und keine Spur von Altersmilde: Das 1991 komponierte Roáï (Vol. I) donnert und röhrt für 13 Minuten durch die Boxen. Das ist schon etwas für Hartgesottene! Metaller, aufgepasst – hier findet ihr euren Meister!

Unter Arturo Tamayo hat das Orchestre Philharmonique de Luxembourg auf inzwischen fünf CDs das Orchesterschaffen Xenakis‘ vorgestellt. Die Einspielungen verbinden Temperament und Elan mit ausgezeichneter Spielkultur. Dazu kommt ein Klangbild, das es schafft, kristalline Brillanz mit Saftigkeit zu vereinen. Die Teile I bis IV liegen inzwischen in einer preiswerteren Edition vor.



Georg Henkel



Besetzung

Orchestre Philharmonique du Luxembourg

Leitung: Arturo Tamayo



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