Musik an sich


Editorial

Dass Musik und Jahreszeiten in einem Zusammenhang stehen, hat nicht erst Antonio Vivaldi mit seinen berühmten Konzerten gezeigt. Bestimmte Klänge und musikalische Bewegungen passen offenbar zueinander wie die berühmte Faust aufs Auge. Die hitzig-furiose Sturmmusik am Ende des „Sommers“ kann man sich kaum im „Winter“-Konzert vorstellen und die gefrorene Musik, mit der das „Winter“-Konzert anhebt, würde in allen übrigen Teilen der Jahreszeiten einfach zu eiskalt wirken! In der traditionellen indischen Musik nimmt man es noch genauer: Da sind einzelne Ragas sogar bestimmten Tageszeiten zugeordnet. Der westliche Konzertbetrieb nimmt auf derlei Subtilitäten meist keine Rücksicht, da ist dann erlaubt, was gefällt. Immer wieder erstaunlich, wie es jedes Jahr die üppig kostümierten Massen ins überhitzte Festspielhaus nach Bayreuth zieht, wo sie sich der massiven Wagnerschen Klangenergie aussetzen. Das ist in etwa so, als würde man in der Sauna noch einen XL-Heizlüfter aufstellen.

Ich stelle fest, dass meine HiFi-Anlage in diesem Sommer öfter kalt bleibt. Bei hochsommerlichen Temperaturgraden und Luftfeuchtigkeitswerten ist nur bestimmte Musik geeignet bzw. erträglich. Die frühen Klavierstücke von Eric Satie, möglichst langsam gespielt, bringen sogar ein gewisses Kühlungsgefühl. Überhaupt ist Klaviermusik, sofern sie nicht zu komplex und schnell ist, für erfrischende Hörerlebnisse eher geeignet als Cembalomusik oder Stücke für Solovioline. Je mehr Obertöne, desto heißer fühlt sich Musik an! Kammermusik hat eher eine Chance. Bei Vibraphon und Flöte zieht‘s schon mal an den Ohren ... Schnelle, laute, große Musik – Sinfonik – an heißen Tagen ist das kaum auszuhalten. Ich schwöre, dass bei Maria Callas des Eis im Glas schneller schmiltzt! Anton Bruckner kann bei schwülem Wetter zu massiven Kreislaufproblemen führen. Ist es hingegen bedeckt – oder gar, wie heute, nieselig-trüb – erhebt er das melancholisch gestimmte Gemüt und erfrischt. Jeder mache da mal die Hörprobe aufs Exempel und finde seine persönliche Klangtemperatur heraus. Bestimmt lassen sich im Winter sogar Heizkosten sparen, wenn man möglichst massive, laute, leidenschaftliche und glühende Musik hört ... Zumindest treibt des den Blutdruck der Mitbewohner in die Höhe. Im Hochsommer, so scheint es, sind Open-Air-Konzerte mit ausreichender Kaltgetränkunterstützung die wahrscheinlich einzig wahre Alternative, um Atemnot und Hitzewallungen vorzubeugen.

Aus der MAS-Klangklimaredaktion kommt dieses Mal die vierte Folge von Hans-Jürgen Lenharts neuer Kolumne. Play Latin #4 informiert über garantiert sommertaugliche Scheiben aus Brasilien. Stimmt das Interview mit der irischen Band Darkest Era schon auf die dunklere Winterzeit ein, wirkt die Beschreibung des sehr langwierigen Arbeitsprozesses für das jüngste Album von Steel Prophet eher schweißtreibend. Auf eine erfrischend grandiose Live-Performance des Alan Parsons Project macht der aktuelle Bericht von Stefan Graßl neugierig. Nicht minder begeistert klingt seine Kritik zum Pornograffiti-Konzert von Extreme. Nostalgische Herbst-Stimmung weckt die Beschreibung eines Old-School-Konzerts der New Yorker Daptone Super Soul Revue - bis man die Musik hört!

Im Rezensionsteil findet sich dann wieder eine breite Mischung unterschiedlichst temperierter Musik, so dass allseits für erfrischende Kühlung und Erhitzung der Anklangsnerven (Hier scheint unser Georg eine medizinische Neuentdeckung gemacht zu habe, die Fach- wie Musikwelt in heftigste Erregung versetzen wird; Red.) gesorgt sein dürfte.

Georg Henkel