Coroner

Grin


Info
Musikrichtung: Thrash Metal

VÖ: 29.06.2018 (10.9.93)

(Noise)

Gesamtspielzeit: 57:50

Internet:

http://www.coroner-reunion.com


Hatten sich Coroner auf Mental Vortex schon ein kleines Stück weit aus dem Thrash-Lager entfernt, so setzten sie diese Entwicklung mit Album Nr. 5, Grin, fort. Natürlich gibt es auch hier noch Songs, die problemlos auf jedes der vier Vorgängeralben gepaßt hätten, etwa „Internal Conflicts“, das erstaunlicherweise sogar ein wenig in Richtung des Groove Thrash schielt, den Combos wie Pantera oder Sepultura damals gerade erst entwickelten – aber ein völlig eigenständiges Speedsolo, im hinteren Teil sogar mit spacigen Keyboards, die den Weg für ein großes klassisches Solofinale ebnet, wie man solche Klänge von Tommy T. Baron gewohnt ist, dürfte auch den größten Zweifler davon abhalten, hier etwa „Trend!“ rufen zu wollen. Das geheimnisvolle, leicht orientalisch anmutende, aber wohl eher australisch gedachte Intro „Dream Path“ läßt noch keinerlei Schlüsse zu, in welche Richtung sich Coroner auf diesem Album entwickeln werden, aber das folgende „The Lethargic Age“ macht schon einen Einfluß deutlich, den man bisher eher latent bis gar nicht im Schaffen des Schweizer Trios vorfinden konnte: die Sorte Kunstrock, in die Fates Warning nach der ersten, weitgehend noch den alten Prog-Zug fahrenden Ray-Alder-Platte No Exit gingen. Dazu paßt auch, dass Ron Royce (endlich, möchte man ausrufen) etwas mehr Variabilität in seinen Gesang legt und den ersten Teil dieses Songs mit einer Art tiefem Sprechgesang gestaltet, wie er ihn auf dem Albumvorgänger schon einmal kurz andeutete, aber dann nicht weiter pflegte. Der zweite Teil des Songs bleibt dann aber in seinem gewohnt rauhen Gestus, wobei selbst dieser irgendwie ein wenig aufgehellter wirkt, wenngleich, man muß es so hart sagen, die Vocals auch auf Grin der größte Schwachpunkt Coroners bleiben.
Dafür überzeugen die drei Schweizer auf diesem Album aber mit allen anderen Komponenten. Erstklassige Instrumentalisten waren sie ja schon immer, sind seit Mental Vortex aber auf der Erkenntnisstufe angelangt, dass sie das nicht mehr am Stück beweisen müssen. Statt dessen geben sie auch in den neuen Kompositionen den Ideen Zeit zum Reifen und zum Atmen, anstatt alles mit Breaks und unmöglichen Taktarten zuzukleistern. Äußeres Zeichen für diese Theorie bildet abermals, dass bis auf die beiden kurzen Instrumentals „Dream Path“ und „Theme For Silence“ sowie das bereits erwähnte „The Lethargic Age“ kein Song unter der Sechs-Minuten-Marke bleibt. Das hat wie schon auf dem Vorgänger nichts mit künstlicher Auswalzung zu tun, sondern gibt den Songs Gelegenheit, ihre Ideen zu entwickeln, wenngleich der Hörer schon gezwungen ist, sich auf diese Strategie einzulassen – wer die stark verdichteten Vierminüter auf No More Color schätzte, könnte hier vielleicht vor Problemen stehen, und der Speedfreak tut das sowieso: Marquis Marky trat ja schon auf den Vorgängeralben das Gaspedal nur äußerst selten durch, aber hier besitzt dieses Stilmittel noch größeren Seltenheitswert. Dafür bereichern neue Einfälle die Songs, etwa die Vocoder-Vocals in „Serpent Moves“, die zugleich die vokale Monotonie weiter bekämpfen. Interessanterweise verschweigt das Booklet des Re-Releases die Texte zu diesen Teilen und druckt für diesen Song nur die ab, die Royce in seinem normalen Gestus singt. Gerade dieser Song macht aber auch deutlich, dass Coroner parallel zu VoiVod Pink Floyd und deren Prinzip der Wirkungserzielung durch monoton wirkende Repetitionen mit geringer Variationsbreite kennengelernt haben müssen. In „Status: Still Thinking“ wiederum baut Royce sogar einzelne Schlagworte in deathmetallischem Gebrüll ein, die dem Song wieder ein eigentümliches Gepräge geben, hier in Tateinheit mit den seltsamen halbcleanen Gitarren, die auch Jim Matheos zu jener Zeit gern in ähnlicher Form einsetzte, was zugleich diverse US-Undergroundler taten, etwa Civil Twilight, wobei hier kaum zu entscheiden sein dürfte, wer sich wo eine Inspiration geholt hat oder ob das alles im eigenen Hirn gewachsen ist. Dass Grin aber durchaus in diesem Sektor noch nicht der Weisheit letzter Schluß hätte gewesen sein können, zeigt das Ende von „Status: Still Thinking“, wo der Ethno-Percussion-Part „nur“ dazu dient, den Weg für die anderthalb Minuten „Theme For Silence“ zu bereiten, in denen im wesentlichen didgeridooartige Klänge durch die Botanik wabern. Aus der Idee wäre durchaus mehr herauszuholen gewesen – aber das bleibt Theorie. Dafür entschädigt „Paralized, Mesmerized“, zumindest all jene, die doomigen Prog-Thrash zu schätzen wissen, wobei Coroner sich, wie wir wissen, dieser Mixtur aus Richtung des Thrash nähern, während Memento Mori, die noch im Jahr 1993 Ähnliches zu tun begannen, sowohl einen Thrash- (Hexenhaus!) als auch einen Doom-Background (Candlemass!) besaßen. Auffällig ist, dass dieser Song wie auch etliche andere auf Grin keinen festen Schluß besitzt, sondern ausgefadet wird – was sonst oftmals eher ein Zeichen für simple Einfallslosigkeit ist, könnte bei Coroner Methode haben. Bisweilen findet man in den Nachschlagewerken übrigens auch die Schreibweise „Paralyzed“ – auf dem hier vorliegenden Re-Release überwiegt die Version mit i, während die mit y nur ein einziges Mal vorkommt, nämlich beim Auftauchen der titelgebenden Worte in den Lyrics.
Der Titeltrack „Grin (Nails Hurt)“ schlägt noch einmal neue Pfade ein – eleganten klassischen Midtempo-Thrash gab es auf der Scheibe bisher noch gar nicht zu hören, und nach fünf Minuten schlägt die Nummer völlig überraschend in Highspeed-Geballer um, natürlich trotzdem mit hohem Luftigkeitsgrad und endend mit registrierkassenartigen Geräuschen, aber ohne Münzgeklingel, so dass der Verweis in Richtung Pink Floyd eher latent bleibt. Mit dem Achteinhalbminüter „Host“ steht der längste Song am Ende von Grin und macht abermals klar, wie Pink Floyd in den Coroner-Kontext übersetzt klingen würden. Blues, elektronische Anklänge, angedeutete weibliche Vokalisen (von Bettina Klöti), auch Royce wieder mit einigen verzerrten und gesprochenen Parts – das alles ergibt in Verbindung mit traditionellem Coroner-Sound und dem erwähnten Schatten von Fates Warning hochinteressanten Progmetal, der 1993, mitten in der „Alles geht“-Explosion im Metal theoretisch durchaus mehrheitsfähig hätte werden können, aber vermutlich dann doch zu gut für den Durchschnittsmetaller war (und ist?). So bleiben knapp 58 Minuten hochgradig interessante Musik, auf die man sich freilich einzulassen bereit sein muß.

Wie schon bei Mental Vortex macht auch der ebenfalls bei Noise erschienene Re-Release von Grin strukturell einen guten Eindruck und hebt sich wohltuend von den eher billig aufgemachten Re-Releases der ersten drei Scheiben bei Century Media ab. Extrasongs gibt es zwar auch hier keine, aber wieder einen edel wirkenden Digipack und im Booklet die kompletten Lyrics, von den verfremdeten in „Serpent Moves“ wie erwähnt abgesehen. Wer das Original noch nicht im Schrank hat, bekommt mit dem Re-Release also einen starken Impuls, diesen Zustand zu ändern.

Damit endet die Reihe der Coroner-Re-Release-Reviews. Auch mit Grin kam die Band businesstechnisch trotz einer gut bewerteten Tour mit Annihilator keinen Schritt vorwärts, und so beschloß das Trio 1994, seine Aktivitäten einzustellen. Offensichtlich schuldete man Noise aber noch ein Album, und so erschien posthum ein selbstbetiteltes, bestückt mit neuen Songs, Remixes und Coverversionen. Selbst diese Verlegenheitslösung landete im Rock Hard noch in der „10x Dynamit“-Rubrik, was den enorm hohen Status der Band bei Spezialisten ein weiteres Mal verdeutlicht. Re-releast wurde diese finale Scheibe bisher allerdings nicht, und auch die Reunion im neuen Jahrtausend hat bisher sporadische Liveaktivitäten, aber kein neues Audiomaterial zutagegefördert. So bleibt der Rückblick auf eine Band, die bis auf das etwas zu stark komprimierte No More Color durchgehend Qualitätsware für den Anspruchsmetaller abgeliefert hat. Die Re-Release-Serie bietet auch jüngeren Generationen von Metallern eine gute Gelegenheit, sich in das Schaffen von Coroner einzuarbeiten.
Fun Fact am Rande: Alle fünf Alben sind titelseitig umgekehrt alphabetisch geordnet – sogar das selbstbetitelte sechste paßt noch in diese logische Reihe. Bei einer „Thinking Man’s Metal“-Band wie Coroner könnte selbst so ein Detail nicht zufällig sein.



Roland Ludwig



Trackliste
1Dream Path1:12
2The Lethargic Age4:17
3Internal Conflicts6:19
4Caveat (To The Coming)6:38
5Serpent Moves7:38
6Status: Still Thinking6:14
7Theme For Silence1:32
8Paralized, Mesmerized8:07
9Grin (Nails Hurt)7:22
10Host8:23
Besetzung

Ron Royce (Voc, B)
Tommy T. Baron (Git)
Marquis Marky (Dr)



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>