Ein lustiger Weber-Mahler-Hybride: Die Oper „Die drei Pintos“ eröffnet das Mahler-Festival in Leipzig




Info
Künstler: Carl Maria von Weber/Gustav Mahler: Die drei Pintos

Zeit: 12.05.2023

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Anno 2011 organisierte das Gewandhaus zu Leipzig das Internationale Mahler-Festival, des 100. Todestages des großen Komponisten und Dirigenten (und des 150. Geburtstages im Jahr zuvor) gedenkend. Damals stand innerhalb von reichlich zwei Wochen ein kompletter Sinfoniezyklus auf dem Programm, bestritten vom hauseigenen Klangkörper unter dem damaligen Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly und zahlreichen Gastorchestern, von denen viele einen direkten Mahler-Bezug hatten, und das Festival wurde zu einem riesigen Erfolg. Zehn Jahre später sollte daher das zweite Internationale Mahler-Festival stattfinden, aber wer sich noch an die Lage anno 2021 erinnert, der weiß auch, warum der Plan nicht durchgeführt werden konnte – ergo wurde eine Verschiebung um zwei Jahre beschlossen, und nun, im Mai 2023, kann das Festival tatsächlich über die Bühne gehen. Einen Sinfoniezyklus gibt es auch wieder, teils mit den gleichen, teils mit anderen Orchestern, aber das „Rahmenprogramm“ ist deutlich erweitert worden. Wenngleich Mahlers kompositorisches Schaffen relativ knapp bemessen ist, lassen sich immer noch Raritäten finden, die man bei so einer Gelegenheit sinnvollerweise mal wieder ausgraben kann.

Eine dieser Raritäten ist die Oper „Die drei Pintos“. Mahler arbeitete fast zeitlebens als Operndirigent, hat aber keine einzige Oper selbst geschrieben – mit einer halben Ausnahme, die allerdings seine Karriere maßgeblich beflügelte. Carl Maria von Weber hatte bei seinem Tod 1826 Skizzen und Fragmente zu einer Oper unter besagtem Namen hinterlassen, aber keiner der Komponisten, denen Webers Witwe und später deren Nachfahren das Material mit der Bitte um Vervollständigung überließen, sahen eine reale Chance in diesem Projekt. Mahler, seit 1886 Zweiter Kapellmeister am Leipziger Stadttheater, lernte in der Messestadt Carl von Weber, den Enkel des Komponisten, kennen und stürzte sich in die ihm angetragene Arbeit, beflügelt nicht zuletzt von der Zuneigung zu des Enkels Gattin Marion. Im Januar 1888 kam das vollendete Werk dann tatsächlich in Leipzig zur Uraufführung, feierte einen riesigen Erfolg und wurde bald an zahlreichen weiteren Bühnen gegeben, was Mahler in Tateinheit mit der lukrativen Veröffentlichung des Notenmaterials (siehe Bild) eine erkleckliche Summe an Tantiemen und anderweitigen Einnahmen einbrachte und seinen Namen zudem erstmals markant auf dem Tableau der ernstzunehmenden Komponisten plazierte – das eigenkomponierte Frühwerk hatte wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Lage wandelte sich in verschiedenen Komponenten aber bald: Mahler verließ Leipzig noch 1888 aufgrund von Problemen innerhalb des Theaters (und sicherlich auch wegen des Umstandes, dass er nicht auf eine glückliche Zukunft mit Marion von Weber hoffen durfte), mußte noch mehr als ein Jahrzehnt zäh ringen, bis auch seine eigenen Sinfonien allgemeine Anerkennung fanden – und „Die drei Pintos“ verschwand spätestens nach seinem Tode von den Spielplänen und tauchte dort über viele Jahrzehnte hinweg nur extrem selten wieder auf.

Eine dieser raren Gelegenheiten, das Werk live zu erleben, bietet sich nun in Leipzig beim Mahler-Festival, das mit drei konzertanten Aufführungen der Oper eröffnet wird. Dass das klappt, steht allerdings in gewissen Momenten auch auf der Kippe, da gleich drei zentrale Figuren mehr oder weniger kurzfristig ausfallen – und für Rollen in so einer Rarität einen Ersatz zu finden ist deutlich schwieriger als für eine gängige Rolle des Opernbetriebs wie meinetwegen Tamino oder Tannhäuser, bei der es einen gewissen „Pool“ von Menschen gibt, die diese schon mal gesungen haben, während die Wahrscheinlichkeit, kurzfristig einen Menschen aufzutreiben, der schon mal eine der Rollen aus „Die drei Pintos“ gesungen hat, ungefähr der entspricht, in Leipzig einem Außerirdischen zu begegnen. Bassist Wilhelm Schwinghammer springt als Don Pantaleone noch so langfristig ein, dass er im Programmheft regulär vorgestellt werden kann, Tenor Benjamin Bruns ersetzt Martin Mitterrutzner als Don Gaston Viratos aber so kurzfristig, dass seine Vorstellung per Beilegezettel vorgenommen werden muß – und dann fällt in gleicher Kurzfristigkeit noch eine andere nicht ganz unwichtige Figur aus, nämlich Dirigent Petr Popelka. Dmitri Jurowski, der im Herbst 2022 beim Gewandhausorchester sehr erfolgreich debütiert hatte, unterzieht sich der herkulischen Aufgabe, das Dirigat zu übernehmen. Dass bei so einer Konstellation auch am zweiten Abend, den der Rezensent miterlebt, hier und da das Feintuning noch Reserven offenläßt, ist klar – aber das Gros des Gebotenen stimmt definitiv positiv.
Das Werk besteht aus drei Akten mit einer Pause zwischen dem ersten und dem zweiten. Das Material des ersten hatte Weber noch weitgehend vorbereitet, wenngleich noch nicht in einer endgültigen Instrumentierung. Für den zweiten Akt bleibt die Lage diffus, während der dritte bis auf die Grundstruktur weitgehend auf Mahler zurückgeht. Von der Konstellation her handelt es sich um eine klassische komische Oper mit Verwechslungsstruktur: Don Pantaleone will, dass seine Tochter Clarissa den ihr unbekannten Don Pinto de Fonseca heiratet – der aber, gezeichnet als eher unangenehme, nicht böse, aber tölpelhafte Figur, gerät auf der Reise in Schwierigkeiten und wird seinen Brautbrief an den schlauen Don Gaston Viratos los, der sich nunmehr als Don Pinto ausgibt, aber auf das Hindernis stößt, dass Clarissa in Don Gomez de Freiros verliebt ist, was auf Gegenseitigkeit beruht, so dass Gaston schließlich „zurücktritt“ und nunmehr Gomez als dritter Don Pinto in Erscheinung tritt, zu dessen Verbindung mit Clarissa Don Pantaleone unwissend seinen Segen gibt. In der turbulenten Schlußszene trifft schließlich der echte Don Pinto ein, wird aber hinausgeworfen, und der überrumpelte Brautvater akzeptiert schließlich Gomez als Schwiegersohn, während für Gaston und seinen Diener Ambrosio zumindest der Spaß an der Freude bleibt, da die Wirtstochter Inez aus der ersten Szene offenbar für keinen der beiden dauerhaft „abfällt“ und Laura, die Zofe von Clarissa, auch nicht.
Dieses Libretto, original von Theodor Hell nach einer Novelle von Carl Seidel, später durch Carl von Weber überarbeitet, bietet natürlich reichlich Stoff für Komik, wenngleich schon die damaligen Protagonisten die eher simple Figurenzeichnung rügten und man heute noch so manchen weiteren Kritikpunkt hinzufügen könnte. Andererseits läßt sich inszenatorisch z.B. mit einer frechen Hochschulaufführung ein großer Spaß draus machen, und selbst die konzertante Aufführung im Gewandhaus bietet einige Möglichkeiten, schauspielerische Elemente zur Wirkungsverstärkung einzubinden, etwa wenn die Herren des Gewandhauschores zu Beginn der Oper nicht bei den Damen auf der Orgelempore stehen, sondern gesondert von links einmarschieren, um den Chor der Trinkfreudigen im Wirtshaus zu geben, nachdem interessanterweise schon die Blechbläser gesondert einmarschiert sind. Auch die Szene am Ende des ersten Aktes, als Gaston und Ambrosio den im Rausch eingeschlummerten Pinto in Richtung Bett bugsieren, reiht sich diesbezüglich prächtig ins Geschehen ein. Währenddessen erklingt interessanterweise die von Mahler komponierte Zwischenaktmusik, eine Art Nocturne, in das sich erst allmählich angedeutete Alpträume des Schlafenden einmischen. Das Programmheft vermerkt diese Zwischenaktmusik erst nach der Pause, Jurowski spielt sie aber davor, was neben dem Aspekt, dass wir hier sozusagen die Pinto-Träume szenisch passend serviert bekommen, auch den angenehmen Nebeneffekt hat, die Spielzeiten der beiden Blöcke ein wenig mehr anzugleichen, da der hintere doch ein gutes Stück länger als der vordere ist.
Eine genauere Betrachtung der Musik läßt schon auf den ersten Blick erkennen, wie sich Mahler offenbar der Reihe nach mit dem vorliegenden Material beschäftigt hat, das bekanntlich nach hinten heraus immer spärlicher wurde, und sich zugleich aber auch vom Gedanken „Was hätte Weber hier getan?“ immer mehr befreite, wie er später selbst äußerte, obwohl er auch für die späteren Nummern noch einige Motive anderen Weber-Werken entlieh. Aber das Duett „Nun da sind wir“ (Nr. 16) etwa hebt mit derart dramatischer Finsternis an, wie sie mahlerischer nicht sein kann, während man sich diese Stelle in Webers Werk kaum vorstellen könnte, was auch auf die schlagzeugdominierte Einleitung des dritten Aktes zutrifft, aber etwa in den Bombastpassagen im Finale des ersten Aktes, also bevor Pinto einschlummert, noch anders war. Generell fällt allerdings eine große Sicherheit im wirkungsvollen Einsatz der musikalischen Elemente auf, etwa gleich in der Eröffnungsnummer, wenn aus feistem Chorbombast nahtlos trunkene Tanzrhythmen werden – und so geht das munter weiter, den Hörer oft zum Schmunzeln, nicht selten auch zum wissenden Nicken animierend. Zwar notiert man quasi dauernd gedanklich, wo man mehr Mahler und wo mehr Weber zu hören meint, aber letztlich bleibt diese Entscheidung müßig. Nur an einer Stelle schüttelt man verzweifelt mit dem Kopf, und das ist das zweigeteilte Finale des gesamten Werkes. Wer sich noch an den Sketch „Im Opernhaus“ von Rudi Schiemann erinnert, dem wird der Satz „Zum Schluß sangen sie alle zusammen und alle durcheinander – nur damit sie die letzte Bahn nicht verpaßten“ im Ohr sein. Zwar entfällt zumindest aus 2023er Perspektive der Bahn-Aspekt (der 50stündige Streik, der den deutschen Eisenbahnverkehr komplett lahmlegen hätte sollen, hätte erst zwei Abende nach dem vom Rezensenten erlebten begonnen, und die Vorstellung am Tag des theoretischen ersten Streikabends ist eine Matinee), aber diese beiden Nummern sind derart komplex, dass man selbst mit Libretto nicht hinterherkommt, wer hier gerade was aussagt. Da hier alle Handlungsfäden zusammenlaufen, wäre ein Grundverständnis wichtig, das aber selbst mit Textunterstützung kaum herzustellen ist. Einem anderen Aspekt des Grundverständnisses hilft das Programmheft aber ungemein: Dort sind nämlich auch die zwischen den 21 Nummern gesprochenen Texte abgedruckt, die es in der konzertanten Fassung nicht zu hören gibt, die aber für das Verständnis der Handlung zentrale Wichtigkeit besitzen. Da die Aufführungen aufgezeichnet und beim MDR gesendet werden, hat der Radiohörer ohne Programmheft hier einen klaren Nachteil.
Unter den Sängern fällt zunächst der eingesprungene Benjamin Bruns als Gaston auf – er singt enorm powervoll, durchdringend und in einer Weise, als stünde eine Wagner-Oper auf dem Programm, was den Rezensenten an einen „Freischütz“ mit Stefan Vinke vor vielen Jahren an der Leipziger Oper erinnert. Der dominanten Rolle ist dieses Gebaren immerhin angemessen und für die Textverständlichkeit nützlich – Bruns paßt sich aber dann nach einigen Nummern auch besser ins Ensemble ein und nimmt die extreme Power etwas zurück. Bassist Franz Hawlata als Pinto hat eine eher gedeckte Stimme, was zu seiner als Schwächling gezeichneten Figur paßt, aber ihn dadurch schwer hörbar macht, was sich nach einiger Zeit der Gewöhnung durch den Zuhörer indes bessert. Sein Fachkollege Wilhelm Schwinghammer als Pantaleone muß die Lage meistern, dass ihm als greisem und offenbar zu verkalken beginnendem Patriarchen Mahler einige absonderlich rhythmisierte Passagen verpaßt hat, in denen der Sänger sozusagen voll gegen den Strich singen muß, was er aber gut meistert, wobei auch er etwas wagneresk agiert, aber im Ohr des Rezensenten nur gemäßigt ankommt, weil er von den Sängern am weitesten entfernt vom Platz des Rezensenten steht. Von den Damen hat Mezzosopranistin Amelie Sophie Müller als Laura wenig Chancen in den Ensembles, führt im Solo „Höchste Lust“ aber eine richtig schöne, wenngleich schwer textverständliche Stimme ins Feld. Zum Problemfall wird Viktorija Kaminskaite als Clarissa – hier müßte man die Partitur studieren, um zu entscheiden, ob ausnahmslos alle Hören wirklich so angestrengt klingen müssen wie an diesem Abend. Ansonsten gilt für die Sopranistin Analoges wie für ihre Mezzo-Kollegin. Mit unauffälliger, aber wirkungsvoller Stimme gefällt Katja Stuber als Inez in ihren wenigen Einsätzen. Zum sängerischen Haupttrumpf des Abends aber wird Krešimir Stražanac als Ambrosio – er hat schon die klassische Bufforolle, aber was er draus macht, verdient allerhöchsten Respekt, zumal er gleich an mehreren Stellen einen verkappten Countertenor geben muß, was für einen Bariton eine nicht gerade naheliegende Aufgabe darstellt. Der Mann sorgt also für den einen oder anderen Lachsturm, und dass sein Terzett mit Gaston und Pinto im ersten Akt nicht mit Szenenapplaus quittiert wird, liegt ausschließlich daran, dass das Publikum offensichtlich unsicher ist, ob man auch bei einer solchen konzertanten Aufführung in diese Form des Jubels ausbrechen soll, was sich dann im zweiten Akt ändert, allerdings ausgerechnet bei der problematischen Clarissa-Arie. Eine prima Leistung liefert der von Gregor Meyer präparierte Gewandhauschor ab und bekommt letztlich fast den stärksten Applaus, während man dem sehr übersichtlich besetzten Gewandhausorchester hier und da leichte Unsicherheiten anmerkt, die aber von zahlreichen Momenten, wo es die angestrebte Stimmung bestens unterstreicht, problemlos kompensiert werden, wobei wie erwähnt die größte Leistung des Dirigenten überhaupt darstellt, dieses komplex-flotte Stück so kurzfristig übernommen und einstudiert zu haben. Aber die Zahl der Prozente, die Dmitri Jurowski noch hätte drauflegen können, wenn er von Anfang an eingebunden gewesen wäre, hält sich vermutlich in Grenzen, und das soll nicht so verstanden werden, dass er etwa nicht über ein niedriges Niveau hinausgekommen wäre – im Gegenteil.

Was bleibt nun aber? Der Weber-Mahler-Hybride ist lustig, und einigen Nummern wäre durchaus zuzutrauen, dass sie ins Repertoire der jeweiligen Stimmfach-Sänger finden und in Paradeprogrammen wieder auftauchen. Im heutigen Leipziger Kontext würde man eine szenische Produktion vielleicht weniger im Opernhaus, sondern in der Musikalischen Komödie oder wie erwähnt in der Hochschule für Musik und Theater erwarten, möglichst ohne Versuche einer zeitgenössischen Deutung – Me-Too-Debatten oder solche zum Umgang mit in bestimmten Komponenten benachteiligten Mitgliedern der Gesellschaft sollte man dem Werk tunlichst ersparen. Erstaunlicherweise ist das Gewandhaus zumindest bei den ersten beiden Aufführungen nicht komplett ausverkauft, und der finale Applaus zumindest am zweiten Abend läßt trotz allgemein guter Laune den ganz großen Enthusiasmus vermissen, so dass der Konzertmeister die Versammlung auf der Bühne relativ schnell beendet. Eine Entdeckung, für deren Ausbuddelung der Kreativfraktion im Gewandhaus Dank zu zollen bleibt, ist das Stück freilich allemal, für eine Handvoll gute Laune reicht es auch, und wer will, kann ja tatsächlich tiefenanalytisch eindringen, was hier nun Weber, was Mahler und was von Mahler herangezogener Weber ist.


Roland Ludwig



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