Musik an sich


Reviews
Rameau, J.-P. (Minkowski)

Plateé. Lyrische Komödie


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 13.02.2004

TDK Mediaktive / Naxos (2 DVD Video (AD 2002) / Best. Nr. DV-OPPLT)

Gesamtspielzeit: 150:00

Internet:

TDK Mediaktive



KOMISCHES MELODRAM IM BIOTOP: PLATÉE

MINKOWSKIS II. - ZUSAMMEN MIT LAURENT PELLY EIN VOLLTREFFER

Ich gebe zu: Die Erwartungen waren hoch. Schon allein deshalb, weil Marc Minkowski diese komische Oper von Jean-Philippe Rameau bereits 1988 bei Erato mit einer ganz anderen (Sänger)Besetzung in einer wirklich eindrucksvollen Interpretation vorgelegt hat.
Doch erst mit dieser musikalischen und szenischen Neuproduktion, so scheint's, wird der Dirigent Rameaus tragikomischen Geniestreich in jeder Hinsicht gerecht. Zwar hießen die Musiciens du Louvre schon damals so. Auch besaß ihr Klang schon damals von jene aufrührerische, zupackende Rasanz, für die das Orchester auch heute bekannt ist. Aber trotz aller schönen, mitreißenden und überraschenden Momente entwickelt die alte Platée nicht diese musikalisch-theatralische Sogwirkung und Stringenz, die einen bei diesem Livemittschnitt aus der Opéra National de Paris für 150 Minuten in den Bann schlägt.

Rameaus Opernkomödie über die perfide Täuschung der grotesk hässlichen, aber ebenso liebenswerten wie -tollen Sumpfnymphe Platée, der ein skrupelloser Jupiter lediglich deshalb eindeutige Avancen macht, um seine eifersüchtige Gattin Juno von ihrem Misstrauen zu kurieren (damit er es danach, wir wissen es, um so toller treiben kann) strotzt nur so vor phantastischer und skurriler Musik, die neben den üblichen Tänzen auch Unwetter, einen Zoo voller Sumpfbewohner, Vögel, Frösche, Esel und Uhus auf die Klangbühne bringt.
Der dramaturgische Faden ist dagegen eher dünn. Konzertant dargeboten, hängt dann auch musikalisch Vieles in der Luft, was szenisch nicht nur Sinn macht, sondern die ganze Opernmaschine zusammenhält. Und genau hier laufen nun Minkowski, seine Musiker und die großartigen Solisten zur Höchstform auf - nicht zuletzt auch dank der gelungenen Inszenierung von Laurent Pelly.

HAUPTDARSTELLER NR. 1: DIE MUSIK

Aber eins nach dem anderen: Minkowski und sein Ensemble haben ihren Musizierstil seit 1988 hörbar weiterentwickelt. Nicht nur, was die technische Perfektion angeht, sondern auch - und vor allem - was die Feinabstimmung des Klangs, den Reichtum an Farben und Nuancierungen und schließlich das Gespür für die Dramatik von Rameaus so theaterwirksamer Musik angeht. Wie jede Phrase ebenso plastisch wie beredt in musikalische Gestik umgeformt (und auf der Bühne entsprechend inszeniert) wird, so dass selbst noch "tröpfelnde" Stützakkorde des Cembalos im sumpfigen Ambiente malerische Ausdrucksqualitäten gewinnen; wie die Tänze und instrumentalen Sinfonien bis ins Detail ausgehört und differenziert werden, so dass die physische Energie der Musik, der Witz und die skurrilen Charaktere unmittelbar greifbar werden - das ist einfach wunderbar gemacht und dürfte schwerlich zu überbieten sein.

Und wo der deftige Klang des Musiciens bei den reinen CD-Konzertmitschnitten auch schon mal etwas zu dick aufgetragen erscheint, findet er hier ein szenisches Gegengewicht als Bezugspunkt, so dass der gewählte Ansatz in jedem Augenblick stimmig erscheint.
Auch Chor und Solisten bieten eine mitreißende sängerische und schauspielerische Darstellung. Allen voran der Tenor Paul Agnew als Platée. Umwerfend sein komödiantisches Talent. Diese Platée, von Lautent Pelly als froschiges Girlie kostümiert, strotzt nur so vor Vitalität und verliert selbst im Untergang nichts von ihrer anrührend-verhopsten amphibischen Grazie. Vor allem Agnews Mimik ist köstlich. Wenn dann noch die Stimme so wie hier auf jeden Ton der Musik "schauspielert", die quakigen "Quois" ebenso perfekt sitzen wie die naive Lebensfreude, der "Schmollendes-Kleines-Mädchen"-Ton und die zu Herzen gehende, zornige Enttäuschung der Nymphe, bleibt kein Wunsch offen.
Gleiches Lob verdient auch der Sängerin der zweiten (heimlichen) Hauptrolle des Stück: Mireille Delunsch bietet als närrische La Folie eine sagenhafte stimmliche Performance. Ihre technisch brillante, dabei völlig überzogene (und von Rameau auch genauso verrückt komponierte) Karikatur einer sinnleeren italienischen Da-Capo-Arie klingt ganz nach 20. Jahrhundert. Auch die übrigen Sänger/innen dürfen in das Pauschallob mit eingeschlossen werden. Exemplarisch seien da nur der indignierte Cithéron von Laurent Naouri oder der schleimig-arrogante Jupiter von Vincent Le Texier erwähnt.

KONGENIAL: DIE MUSIKALISCHE INSZENIERUNG

Laurent Pelly hat schon bei zwei Operetten von Jacques Offenbach mit Marc Minkowski und den Musiciens zusammengearbeitet. Die Chemie stimmte offenbar auch bei Rameau.
Pelly verlegte die Szene kurzerhand in - ein Opernhaus. Das heißt, in das Spiegelbild der Opéra National. Das reale Publikum (bzw. der Zuschauer) blickt auf jene Ränge, in denen es selbst sitzt (bzw. vor dem TV nicht sitzt). Hier beginnt Platée mit dem obligatorischen mythologisch verbrämten Prolog, der zwar musikalische Reize bietet, als "Nicht-Theater" aber höchst heikel zu inszenieren ist. Pelly läßt seine Halbgötter und Allegorien als zappeliges, leicht hysterisches, französisches Publikum auftreten.
Der Zuschauerraum weicht nun von Akt zu Akt einer Sumpflandschaft, die die Ränge erst überwuchert, dann in eine Bruchbude verwandelt und die Bünenkonstruktion offenlegt: Das Spiegelbild als Desillusionierung.

Nicht nur Platée wird nachher um eine gemeine Erfahrung reicher sein. Denn obschon es sich nach Rameaus eigenem Bekunden um eine "Lyrische Komödie" handelt, ist das, was da passiert, so komisch gar nicht. Man hört nicht nur einmal den Tragödien-Komponisten heraus.
Und Pelly sorgt denn auch dafür, dass dem Publikum das Lachen am Ende im Halse stecken bleibt: Der irre-aufgeheiterte Mob (Chor) amüsiert sich wahrlich prächtig und erspart der Nymphe nach Super-Jupiters kaltem Abgang keine Demütigung, Fußtritte inklusive. Das alles ist jedoch sehr diskret, ohne den penetranten moralischen Zeigefinger des Regie-Theaters inszeniert. Es ist einfach, wie es ist. Nach zwei Stunden Spott - den Rameau sichtlich genießt - wird der dramaturgisch Bogen von Pelly hier einfach noch ein klein wenig mehr anspannt, so dass die Schadenfreude in offene Gemeinheit umschlägt. Rameaus Chor klingt dabei auch gar nicht heiter, sondern hysterisch und brutal. Und Platées Flucht in den Sumpf auf drei kreischend dissonanten Akkorden spricht ebenfalls nicht von einem Happy End.
Zur "reinen" Handlung stellen die Tänze bei Rameau (wie überhaupt in der französischen Barockoper) so etwas wie einen choreographischen Kommentar dar. Der Aufklärer Jean Jacques Rousseau hatte für derlei kaum noch Verständnis. Es sei nicht irgendwas, und ginge es um Leben oder Tod - man tanzt schon wieder. Rameaus Tänze sind nun meist sehr inspiriert und von ebenso körperlicher wie dramatischer Energie. Die Choreographin Laura Scozzi nutzt dieses Potential, um das "reale" Geschehen ironisch zu brechen. Dafür wählt sie eine moderne Choreographie, in der die barocken Vorbilder nur mehr als Zitate auftauchen, effektvoll und sehr unterhaltsam zusammengeschmolzen mit Elementen aus Musical, Operette, Vaudville und klassischem Tanz.

Ein rundum gelungene Produktion, klangtechnisch hervorragend, TV-tauglich inzeniert und gefilmt.



Georg Henkel



Besetzung

Paul Agnew (Platée)
Mireille Delunsch (La Folie, Thalie)
Yann Beuron (Thespis, Mercure)
Vincent Le Texier (Jupiter)
Doris Lamprecht (Junon)
Laurent Naouri (Cithéron, ein Satyr)
Valérie Gabail (L'Amour, Clarine)
Franck Leguerinel (Momus)

Orchester und Chor "Les Musiciens du Louvre"

Ltg. Marc Minkowski

Regie: Laurent Pelly
Choreographie: Laura Scozzi
Bühne: Chantal Thomas
Fernsehregie: Don Kent


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