····· Osterei - Luxus-Haydn auf Vinyl ····· Zwischen Grunge und Pop suchen Woo Syrah ihren Weg ····· Der zweite Streich von Billy Idol neu und erweitert ····· Die Hamburger Ohrenfeindt sind „Südlich von Mitternacht“ auf der Überholspur ····· BAP gehen auf Zeitreise in ihre besten Jahre ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Reviews

Monteverdi, C. (Haïm)

L'Orfeo


Info

Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 05.03.2004

Virgin Classics / EMI (2 CD (AD 2003) / Best. Nr. 7243 5 45642 2 2)

Gesamtspielzeit: 96:13

Internet:

Virgin Classics

FLUCH UND SEGEN DES REPERTOIRES

DIE RENAISSANCE DER ALTEN MUSIK

Die Alte Musik ist nun doch erwachsen geworden: Vorbei sind die Zeiten, als alternativ gekleidete Mitglieder diverser Spezialensembles auf mitunter komischen, sebstgebauten "Original"-Instrumenten die Musik bekannter, meist aber sehr unbekannter Meister (waren das überhaupt welche?) mit anfänglich schwer zu goutierendem klanglichen Resultat "authentisch" sangen und spielten.
Vorbei sind die Zeiten, dass sich ein an den hochglanzpolierten Vollklangrausch à la Karajan gewöhntes Publikum über vermeintlich falsche Töne, Nebengeräusche und dünnen Sound erregte (nun ja, fast vorbei, wenn man das diesbezüglich unbegründete Theater bedenkt, das die jüngsten einstimmigen Aufführungen der großen Bach-Oratorien und -Messen auslös(t)en).
Das verdankt sich zum einen der zunehmenden Professionalisierung, die bei den meisten Ensembles ein Niveau erreicht hat, das dem klassischer Sinfonieorchester entspricht. Da röhrt, kreischt und fiepst kein Zink, keine Violine und keine Naturtrompete mehr daneben. Schlank und elegant, mal wild, mal rauh, mal sanft, mal beredet oder mal sanglich ... so klingt's heute, je nach Bedarf und Gusto. Angesichts von so viel kompetentem Spezialistentum haben sich klassischen Sinfonieorchestern zunächst notgedrungen aufs (spät)romantische und moderne Repertoire zurückgezogen.

Der Erfolg mag aber auch damit zusammenhängen, dass die Alte Musik schon längst aus der Nische entlegener Festivals herausgetreten ist und (nimmt man die Verwendung historischer Instrumente) bis in die Spätromantik ausgedehnt wurde. Schumanns Violinkonzert "authentisch" in der Kölner Philharmonie? Kein Problem! Gassmanns urkomische Buffo La Opera Seria historisierend entstaubt und in moderner Inszenierung an der Berliner Linden Oper? Kann man haben. Und selbst die Bayernlande, deren Kapitale bislang eher als eine aufführungspraktische Diaspora galt, haben die Zeichen erkannt: Kaum eine Spielzeit der Münchener Oper kommt ohne eine weitere Händel-Inszenierung aus, die selbst von gestandenen Wagnerianern frenetisch umjubelt wird und für ein ausgelastetes Haus sorgt. Wobei man hier den Barockkomponisten mit modernen Instrumenten und weitgehend "normalen" Opernstimmen aus dem Ensemble besetzt. Allein die Leitung ist meist einem Spezialisten für Alte Musik anvertraut, der soll den etablierten Musikern des Staatsopernorchesters die barocken Töne beibringen. Das gelingt hier mal mehr und mal weniger gut, wie andernorts auch. Soeben sorgt eine Stuttgarter Inszenierung von Claudio Monteverdis "L'incoronazione di Poppea" für Furore - nachdem in Hamburg in den vergangenen Spielzeiten gleich alle drei erhaltenen Opern des venezianischen Meisters als Zyklus über die Bühne gingen. Bonn versucht sich gerade mehr recht als schlecht an Jean-Philippe Rameaus "Daradnus", der für Sänger, Musiker und Regie stets eine besondere Herausforderung darstellt. Im vergangenen Jahr haben sich die Berliner Philharmoniker von William Christie Nachhilfe bei Purcell und Rameau geben lassen, während ihr Chefdirigent Simon Rattle immer wieder zuwammen mit dem englischen Spezialensemble "Orchestra of the Age of Enlightment" musiziert. Jüngere Dirigenten wie Daniel Harding oder Marc Minkowski sind gänzlich frei vom stilistischen Dogamatismus der Anfänge. Minkowski spielt Gluck und frühen Mozart auf alten Instrumenten, Beethoven und Offenach jedoch auf modernen und träumt von einem neuen lyrischen Wagnerklang - jenseits des pastosen Pathos', das da auch heute noch zu hören gibt. Bei Harding stehen Brahms wie Bach "historisierend" geläutert und doch zeitgemäß auf dem Programm der von ihm geleiteten traditionellen Orchester.
Wohin man also auch hört: Die Alte Musik, ob "original" oder ob "historisch informiert", ist im Repertoire angekommen.

BEKUNDEN INTERESSE UND SIND BEGEISTERT BEI DER SACHE - DIE "STARS" DES REPERTOIRES

Aber auch die Spezialisten profitieren von der Öffnung: Große Stars, die man gemeinhin eher im Repertoire zwischen Mozart und Strauß antrifft, verleihen auch der Alten Musik neuerdings vor allem vokalen Glanz. 1999 sang Renée Fleming zusammen mit Susan Graham und Natalie Dessay in einer Neuproduktion von Händels Alcina an der Opera Garnier in Paris. Es spielten und sangen Chor und Orchester von Les Arts Florissants unter der Leitung von William Christie! Obschon dieses "Sängerinnen-Fest" von der Kritik fast einhellig gelobt wurde, zeigt der Mitschnitt (Erato/Warner Music), dass die Neugierde und Begeisterungsfähigkeit von Sängern, die dem barocken Genres nur hin und wieder einen Besuch abstatten, zwar interessante, aber nicht unbedingt überzeugende Ergebnisse zeitigt.
Renée Fleming machte aus ihrer Hauptrolle, der Zauberin Alcina, eine Belcanto-Partie im Stil des 19. Jahrhunderts: mit großem Ton, breiten Tempi und deutlichem Vibrato - auf seine Weise wunderschön, aber nicht unbedingt idiomatisch, auch, was die Verzierungen anging. Christie passte sich ganz ihrer Interpretation an, verlangsamte dabei das Tempo der ganzen Oper manchmal bis zum Stillstand. Die übrigen Damen taten es Fleming gleich, mitunter bravourös in den Koloraturen, dabei aber den Rokoko-Zitaten eines Richard Strauß näher als dem barocken Ziergesang Händels. Am Ende wurden vokale Perlen aneinandergereiht, ohne dass draus ein musikalisches Drama geworden wäre.

Dabei haben auch andere Dirigenten schon längst den Purismus der Anfangsjahre hinter sich gelassen. Das ist ein Glück, weil der "Historismus" im Akademismus zu erstarren drohte. Zugleich zeigt sich hier die Relativität historisch "gesicherter" Erkenntnisse, sobald es an die reale Aufführung geht: René Jacobs Einspielung des 8. Madrigalbuchs von Claudio Monteverdi (HMF/Helikon), so großartig sie insgesamt ist, so sehr irritiert doch manchmal das vokale Vibrato, das der Musik eine nicht immer passendes Pathos und - vor allem im Tutti - eine Über-Erregtheit verleiht. Oder Marc Minkowskis jüngster Händelwurf Giulio Cesare (Archiv/Universal Music). Auch er ist hörbar in jener Romantik angekommen, der man doch ursprünglich den Rücken gekehrt hatte. Das alles zeigt nur, das die Interpretation lebendig ist und weiter eine Interpretationsgeschichte schreibt. So soll's auch sein! Aber über die Ergebnisse darf man auch weiterhin geteilter Meinung sein.

EIN POSTMODERNER "ORFEO"!?

Etwas ähnliches läßt sich nun auch bei dieser Neuproduktion von Claudio Monteverdis epochemachenden Orfeo beobachten. Es ist dies bereits die vierte Virgin Veritas-Produktion der ehemaligen Christi-Assistentin und Continuo-Spielerin Emmanuelle Haïm mit ihrem eigenen Ensemble Le Concert d'Astrée, das hier noch durch den Chor der European Voices und die Bläser von Les Sacqueboutiers verstärkt wird. Wie schon zu Purcells "Dido and Aeneas", so wurde auch in diesem Fall, Virgin sei Dank, ein exzellentes Sängerensemble ins Aufnahmestudio gebeten.
Nach Purcells Kurzoper folgt damit schon nach erstaunlich kurzer Zeit ein weiterer Barock-Opern-Hit, der im Plattenkatalog gewiss nicht unterrepräsentiert ist. Dirigentin und Ensemble treten damit in die Tradition u. a. von Nikolaus Harnoncourt (1971, Teldec/Warner Music), J. E. Gardiner (1986, Archiv), René Jacobs (1994, HMF) und Gabriel Garrido (1996, K617/Helikon), die dieses Werk mit großer Überzeugungskraft wieder in den Konzertsaal, auf die Bühne und auch auf die Platte gebracht haben. Da ist es interessant, die jüngsten Entwicklungen der Alten Musik am "lebenden Objekt" hören zu können.

Was zuerst auffällt, ist der Klang: Zeichnen sich die älteren Produktionen durch ein eher "planes" Klangbild aus, das Sänger und Instrumentalisten gleichrangig nebeneinander stellt und nur für szenische Raumklang-Effekte anders disponiert, erklingt das kleine Orchester hier eher "von hinten". Das entspricht durchaus historischen Gepflogenheiten (der Orchestergraben ist eine jüngere Erfindung), erinnert in diesem Fall aber mehr an den Standard heutiger Opern-Aufnahmen, bei denen das Orchester oft genug zur reinen Begleitung herabgestuft wird, um die im akustischen Vordergrund agierenden Sänger - sprich: die Stars - zu tragen. Darüber geht nicht nur die Intimität der ursprünglich in einem Saal der Residenz von Mantua aufgeführten Oper verloren, man gewinnt auch den Eindruck, dass es hier mehr um die Zurschaustellung der Stimmen, als um die dramatische Interaktion von "singenden" und "sprechenden" Instrumenten und Sänger/innen geht.
Monteverdis Orchester ist mit seinen dem Renaissance-Orchester entlehnten Klangfarben funktional gebunden (z. B. wenn das "näselnde" Regal mit den herben Zinken in den Unterweltszenen für Atmosphäre sorgt, die Harfen von himmlischen Freuden künden oder die Violinen die Menschensphäre beschwören) bzw. - siehe das bunte Continuo - es dient zur Verstärkung der Affekte. Als gleichberechtigter Partner tritt Monteverdis "Band" in diesem Fall aber nicht auf, eher als instrumentales Kolorit, bei dem manche Register (z. B. die trockenen Posaunen und Zinken) nicht so recht tönen wollen.

Der vokale Vordergrund ist nun mit den Stimmen von Natalie Dessay als La Musica oder Ian Bostridge als Orfeo erstklassig besetzt - oder? Natalie Dessay leiht einer Allegorie für einen Auftritt von wenigen Minuten ihre volle, wunderbar disponierte Sopran-Stimme. Es ist allerdings die Stimme einer Sängerin, die eher auf größere Partien ausgelegt ist. Im Verhältnis zum Kammerklang des Instrumentariums ist sie zu dominant. Und sie sprengt den Rahmen der Partie durch extemporierte Spitzentöne, die für Monteverdis Stil mindestens hundert Jahre zu früh kommen. Das Gleichgewicht von Stimme und Instrumentalsatz kippt, der Hörer zuckt zusammen. Dessay gibt uns wahrlich ihre La Musica - aber für ein anderes Jahrhundert.
Bei den übrigen Damen des Ensembles ging es mir zum Teil ähnlich: Großartig gesungen (z. B. die Botin von Alice Coote), aber nicht unbedingt passend für Monteverdi. Allein Veronique Gens als Proserpina hat mich überzeugt: Man hört, dass die Sängerin mit Renaissance-Musik begonnen und sich dann bis Mozart vorgarbeitet hat. Sie weiß ihre Stimme ganz auf die Proportionen dieser Musik abzustimmen: geradling und leuchtend, schlank, aber nicht anämisch. Beweglich, aber auch sehr sinnlich. Auf gewisse Weise sehr viel sinnlicher als Natalie Dessay.

Anders Ian Bostridge, dessen eloquent geführter Tenor sehr akzentuiert auf die Erfordernisse der Partie reagiert. Hier ist es weniger ein zu großer Ton, als ein Übermaß an rhetorischer Arbeit, das irritiert. Bostridges Stärke ist das Reziatativ, bei dem er jedes Detail ausdrucksvoll zu gestalten weiß. Selbst dann, wenn Monteverdi in ein mehr arioses Register wechselt, behält Bostridge diese Manier bei: Das hymnische Rosa del Ciel bleibt so auf dem Boden deklamatorischer Tatsachen, und das berühmte, hochvirtuose Possente Spirito gerät zwar höchst nuanciert, aber eben auch mehr dramatisch und spannungsvoll als beschwörend und süß, zumal Bostridges Stimme in den Verzierungen nicht gerade leicht und schön klingt. Da wundert es eigentlich wenig, das der höllische Fährmann Charon sich nicht beeindrucken läßt.

Emmanuelle Haïm weiß natürlich, wie man diese Musik zum Klingen bringt. An Vorbildern und eigenen Ideen mangelt es nicht. Allerdings (und, um ehrlich zu sein: dieser Eindruck beschlich mich schon bei der Purcell-Aufnahme) fügt sich nicht immer alles zu einem großen Ganzen. Auf gewisse Weise ist die Alte Musik, die ja in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in ihrer vermeintlichen "Rückwärtsgewandheit" durchaus ein Kind der Moderne ist, in einer Produktion wie dieser in der Postmoderne angekommen: Man nehme einfach von allem das Beste ... Doch die Homogenität, die beispielsweise William Christi in seinen Produktionen mit eingespieltem Team hinbekommt (und die ihm bei der Alcina bezeichnender Weise nicht gelang), erreicht Emanuelle Haïm bei dieser Einspielung nicht. Die unnötig entschleunigten Tanzsätze und Chöre (Lasciate i monti) wirken eher gestresst, denn bukolisch. Und das "Finale" des 1. Aktes zündet nicht, weil die Dynamik des sich virtuell "entfernenden" Orchesters einfach zu dünn ist und am Schluss nicht zum Forte zurückgeführt wird. Das alles mag beckmesserisch klingen, nach Nörgelei am fraglos hohen Niveau - aber es hängt in dieser Produktion nun fast alles von den Sängern ab, die die Rollen zwar individuell, aber nicht nicht immer glücklich gestalten.

Herausgekommen ist ohne Frage eine in großen Teilen hörenswerte Aufnahme, die mich insgesamt aber nicht so hingerissen hat, wie ich es angesichts der Besetzung erwartet habe.



Georg Henkel

Besetzung

Ian Bostridge (Orfeo)
Patrizia Cofi (Euridice)
Natalie Dessay (La Musica)
Alice Coote (Botin)
Véronique Gens (Proserpina)
Sonia Prina (Speranza)
Christopher Maltman (Apollo)
Lorenzo Regazzo (Pluto)
Marco Luperi (Caronte)

Chor European Voices
Les Sacqueboutiers
Le Concert d'Astrée

Ltg. Emmanuelle Haïm
Zurück zum Review-Archiv
 


So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger