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Reviews

Lully, J.-B. (Christie)

Atys


Info

Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 28.02.1987

Harmonia Mundi / Helikon (3 CD DDD (AD 1987) / Best. Nr. HMC 901257.59)

Internet:

Harmonia Mundi / Helikon
3 CD DDD (AD 1987) / Best. Nr. HMC 901257.59

Les Arts Florissants

JEAN-BAPTISTE LULLY: "ATYS" - EINE WIEDERENTDECKUNG ANNO 1986


IM BANN DES VORURTEILS

Sollte einmal die Musikgeschichte als "Chronik der Vorurteile" geschrieben werden, dann darf dabei ein Komponist gewiss nicht fehlen: Jean-Baptiste Lully (1632-1687). Mit dem Untergang des Ancien Regime wurde der ebenso mächtige wie begabte Superintendent von Ludwig XIV. zu einem historischen Datum. Bis dahin hatten seine Opern fast 100 Jahre auf den Spielplänen in Frankreich gestanden. Das von ihm, den Librettisten, Ausstattern und Maschinisten kreierte Gesamtkunstwerk aus Drama, Szene und Musik, die Tragédie Lyrique, bedeutete tatsächlich eine Alternative zur italienischen Opera Seria, die ansonsten Europas Theater beherrschte. Gegen die "barocken" Hemmungslosigkeiten der Italiener setzte Lully sein klassizistisches, ins Monumentale gesteigerte Ebenmaß à la Francaise: Statt des immer gleichen Wechsels von Rezitativen und Arien bot der Komponist eine elegant ausbalanciertes Arrangement von ariosen Rezitativen und schlichten, eingängig melodiösen Airs, von Tänzen, dramatischen Sinfonien und großen Chören. Lullys Oper war eine Art dramatisiertes Hoffest und ganz auf den Geschmack und das Repräsentationsbedürfnis von König und Adel abgestellt.

Davon zeugten die mit königlichem Privileg gedruckten Partituren, die bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings eher ein Archivdasein fristeten und hauptsächlich von Musikwissenschaftlern eingesehen wurden, die sich freilich auch nicht sonderlich enthusiastisch zeigten: Die Zeit, so schien es, war eindeutig über diese Musik hinweggegangen. Lully mochte zwar als Gründervater eines nationalen französischen Musikstils in den Geschichtsbüchern auftauchen, aufgeführt wurde seine Musik praktisch nicht: Manches war ja ganz hübsch, das meiste aber zu trocken, zu langweilig, zu steif, zu höfisch. Mythologischer Mummenschanz, ideologisch belastet (Königslob!). Als Musik nicht wirklich gut, nicht wirklich originell. Eigentlich sei er ja auch nur ein übler Intrigant gewesen, der sich hochgedient habe, um dann Konkurrenten wie befreundete Künstler (Moliere!) kaltzustellen. Also: Macht statt Talent, Konvention statt Inspiration.
So weit zu den Vorurteilen.

BETÖRENDE WIDERLEGUNG

Da kam es 1986 schon einer Sensation gleich, als sich der gebürtige Amerikaner William Christie mit seinem damals noch recht jungen französischen Ensemble Les Arts Florissants daran machte, eine abendfüllende Oper von Lully auf die Bühne zu bringen: Atys. 1676 uraufgeführt, war es erst das 4. Werk dieser Art. Der König selbst hatte den Stoff ausgewählt. Es sollte eine der beliebtesten Opern des Komponisten werden, die "Oper des Königs".
Dieser mochte sich durchaus mit den tragischen Liebeswirren des Stücks identifizieren: Der junge phrygische Priester Atys hat in den Diensten der Götterkönigin Cybele Keuschheit gelobt, liebt aber die schöne Nymphe Sangaride - und sie ihn. Dabei ist doch Sangaride Celenos, dem Freund des Atys, versprochen. Und um die Verwirrung der Gefühle komplett zu machen, hat auch Göttin Kybele ein Auge auf Atys geworfen. Der Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Götterbegehren und Menschenliebe wird natürlich für alle Beteiligten tragisch enden ...

William Christie, seinem hochmotiverten Ensemble und exzellenten Solisten gelang es, Lully in großartiger Weise zu rehabilitieren. Sie machten Ernst mit der Ausdruckskraft der Musik, indem sie diese aus dem Korsett pseudohistorischer Stilisierung und schwerfälliger Neoromantik befreiten. Die regelgerechte Deklamation der Rezitative und ihre subtile Ausleuchtung durch ein großes Continuo-Ensemble ließ zu keinem Moment die befürchtete Trockenheit aufkommen. Auf dieser Basis konnten dann auch die Airs, Duette und Ensembles ihre Klangsinnlichkeit entfalten: Man höre nur das ergreifende Atys est trop heureux der Sangaride, die Klage der Kybele Espir si cher et si doux, oder den innigen Schwur der Liebenden im 4. Akt, und man wird verstehen, was damals die Zuhörer zu Tränen rührte. Oder man lausche der phantastischen Traumvision des Atys im 3. Akt und dem ausgelassenen Hochzeitsdivertissement des 4. Aktes, um zu begreifen, welchen Zauber Lullys musikalische Tableaus (auch ohne Bühneneffekte) verbreiten können.

Das Werk löste 1986, nicht zuletzt durch die Inszenierung von Jean-Marie Villegier, eine kleine Lully-Renaissance aus, aus der seitdem eine rasant wachsende Zahl von Produktionen mit Werken dieses Komponisten wie überhaupt des französischen Barock hervorgegangen ist. Zu dieser Welt haben William Christie und Les Arts Florissants eine Tür aufgestoßen. Aufführungspraktisch hat es inzwischen gewiss Fortschritte gegeben, technisch und musikalisch. Der noch etwas tastende Lyrismus von einst ist inzwischen einem souveräneren, auch dramatisch zupackenderen Ton gewichen. Dennoch hat diese Lully-Premiere zum 300. Todestag des Komponisten nichts von ihrer sinnlichen Atmosphäre und betörenden Schönheit verloren.



Georg Henkel

Besetzung

Guy de Mey (Atys)
Guillemette Laurens (Cybèle)
Agnès Mellon (Sangaride)
Jean-François Gardeil (Célénus)

Chor und Orchester Les Arts Florissants

Ltg. William Christie
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