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Reviews

Dream Theater

Live In Berlin (2019)


Info

Musikrichtung: Progressive Metal

VÖ: 12.08.2022

(InsideOut / Sony)

Gesamtspielzeit: 81:26

Internet:

http://www.insideoutmusic.com
lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net

Tauchen Liveaufnahmen in der Lost Not Forgotten Archives-Serie von Dream Theater auf, handelt es sich zumeist um irgendwelche außergewöhnlichen Gigs bzw. Bestandteile von solchen. Das ist bei Live In Berlin (2019) anders, zumindest im gewissen Maße. Es handelt sich bei dem, was da am 27.6. besagten Jahres im Tempodrom stattfand, um einen regulären Gig der Tour zum im Vorjahr erschienenen Distance Over Time-Album. Selbige Tour wiederum war allerdings zumindest in dem Ast, zu dem Berlin gehörte, für die Verhältnisse dieser Band etwas ungewöhnlich strukturiert – keine Doppelsets mit dreistündiger Dauer und auch keine sonstigen Überraschungen, sondern einfach „nur“ ein anderthalbstündiger Headlinergig mit gleich drei Supportacts, so dass letztlich der Abend doch eine erkleckliche und fürs Auditorium anspruchsvolle Länge aufgewiesen hat, zumal auch zumindest einige der Supports durchaus fordernde Musik gespielt haben.
Die Doppel-CD enthält die kompletten zehn eigenen Songs – das vom Band eingespielte Intro „Atlas“ (von Nick Phoenix und Thomas J. Bergersen) fehlt, obwohl angesichts des Doppeldeckers und der erwähnten nur anderthalbstündigen Länge keine Platzprobleme aufgetaucht wären. Was ebenfalls fehlt, sind nahezu die kompletten Ansagen und auch weite Teile der Publikumsreaktionen oder sonstiger Dinge, die zwischen den Songs passiert sein könnten – die Atmosphäre geht nicht mal durch, sondern wird ausgeblendet, so dass man, weiß man nicht um die Setlist, durchaus mutmaßen könnte, hier wären dazwischen noch Songs herausgeschnitten worden, was aber wie beschrieben nicht der Realität entspricht. Richtiges Livefeeling will also nicht aufkommen, zumal der Sound sehr distanziert ist – zumindest der Rezensent muß an seiner Anlage eine Stufe lauter aufdrehen als bei vielen anderen Teilen dieser Serie, um den gleichen Pegel zu erzeugen, und selbst dann bleibt noch der Eindruck erhalten, man stünde nicht etwa in einer halbwegs gleichmäßig beschallten Halle, sondern auf einem Open Air irgendwo ziemlich weit hinten. Der Rezensent war noch nie im Tempodrom und kann die Verhältnisse dort nicht aus eigener Anschauung beurteilen – Ex-CrossOver-Kollege Christian Schmidt-Brücken als Kenner dieses zirkuszeltartig gestalteten Objekts, der dort schon etliche Konzerte besucht hat, sagt allerdings, es sei äußerst schwierig, dort einen klaren und zugleich vollen Sound hinzukriegen. Was freilich festzuhalten bleibt, ist wenigstens auf der CD eine relative Ausgewogenheit des Sounds. Auch das ist bekanntermaßen beileibe nicht bei allen anderen Teilen der Serie der Fall. Vor allem die sonst gern untergebutterten Keyboards kommen diesmal richtig gut zur Geltung, und auch wenn’s ein ganz klein wenig mehr Baß hätte sein dürfen, so geht das hier durchaus als Jammern auf hohem Niveau durch, zumal John Petruccis überwiegend recht feistes Gitarrenspiel nach unten auch einiges an Hilfestellung leistet, damit die Tiefen nicht gar zu unterrepräsentiert sind.
Dass bei der geschilderten Konstellation Material von Distance Over Time in gehäufter Form im Set auftauchen würde, verwundert natürlich nicht. Mit einem solchen Song, nämlich „Untethered Angel“, geht es nach dem erwähnten Intro auch gleich los, ein typischer komplexer Brocken, wie ihn die Band im aktuellen Jahrtausend auf fast jedem Album mehrfach untergebracht hat. Ob er auch mal einen Status wie das folgende „A Nightmare To Remember“ bekommen wird, bleibt abzuwarten – das Teil vom Black Clouds & Silver Linings zählt jedenfalls zum Besten, was das jüngere Schaffen der Amis angeht, und für die pfeifenden Keyboards könnte man Jordan Rudess gleich mehrfach umarmen. Interessantes Detail am Rande: Das Publikum jubelt hier schon vor dem Outro, und daher hört man es mal. Keine Ahnung, was da auf der Bühne passiert ist; denkbar wäre, dass die Band quasi zu einem großen Finale angesetzt und dieses beendet hat, um sich danach schon feiern zu lassen, während das Outro noch vom Band hinterherkam. Aber das können letztlich nur Dabeigewesene entschlüsseln, falls es nicht zufällig auch noch eine visuelle Aufzeichnung dieses Gigs geben sollte. Mit „Fall Into The Light“ folgt nach der üblichen Atmosphärepause wieder ein Song von Distance Over Time, diesmal einer mit etwas melodicrockigem Anstrich, aber immer noch grundsätzlich im melodischen Progmetal ansässig. Hier fällt der wunderbare atmosphärisch schwebende Mittelteil auf, für dessen Leadlinie nun wieder Petrucci eine Umarmung verdient hätte, der dann auch den speedigen Schlußteil markant prägt, indem er eine flitzefingerige Linie quasi nach oben verschwinden läßt, wo sie dann offensichtlich irgendwo im Licht endet. Mit „Peruvian Skies“ begibt sich die Band dann zum ersten Mal ins letzte Jahrtausend, nämlich zu Falling Into Infinity, dessen Albumtitel irgendwie den Titel des vorherigen Songs antizipiert (einen Titeltrack hat Falling Into Infinity wie die meisten anderen Dream-Theater-Alben nicht). James LaBrie fordert das Publikum während des Akustikintros zum Mitklatschen auf, so dass wir hier einen der wenigen Fälle haben, wo seine Ansage auf der Konserve erhalten geblieben ist. Bis zu diesem Song hat man auch schon bemerkt, dass der Sänger in prima Form ist, was bekanntermaßen live nicht immer der Fall ist, wobei ihm das neuere Material lagentechnisch ja auch etwas entgegenkommt. Dass die Leadgesangslinie im Finale von „Peruvian Skies“ auffällig in den Hintergrund gemischt ist, kann freilich mal wieder ohne Hintergrundwissen nicht näher erklärt werden, und so hinterläßt gerade dieser eigentlich großartige Song eine seltsame Wirkung, da ihm nach hinten heraus ein wenig der Höhepunkt verlorengeht, obwohl hier kurioserweise der Publikumsjubel am Ende erhalten geblieben ist, allerdings schnell ausgeblendet wird. CD 1 wird mit „Barstool Warrior“ abgeschlossen, einer weiteren Nummer von Distance Over Time, die schon mit dem Intro klarmacht, dass sich Dream Theater hier mit ihren Wurzeln aus den Siebzigern auseinandersetzen, die sie natürlich in ihren eigenen Soundkosmos übersetzen, und so kommt letztlich irgendsowas wie Dream Theater spielen Genesis“ raus, freilich auf einem Niveau, dass wir hier nicht über Abkupferei oder Ideenlosigkeit reden müssen. Und was für einen warmen Baß John Myung hier unter Petruccis Solo vor Minute 5 legt!
CD 2 hebt mit dem ersten Teil von „In The Presence Of Enemies“ an – der nochmal in sechs „Sätze“ gegliederte Doppeldecker von Systematic Chaos würde in Summe jenseits der 20 Minuten landen, was Dream Theater auf speziellen Gigs natürlich ohne mit der Wimper zu zucken spielen würden, aber auf einem regulären Tourgig mit für Bandverhältnisse ungewöhnlich kurzer Spielzeit nähme ein solches Monster natürlich viel zu viel Zeit weg. Nichtkenner des Songs vermuten anhand des Aufbaues zunächst ein Instrumentalstück, ehe nach reichlich vier Minuten ein markantes Break kommt, das den in der Tat rein instrumentalen Satz 1 von Satz 2 trennt, in welchletzterem LaBrie doch noch zu seinen Sangesaufgaben kommt. Dass Satz 2 und damit Teil 1 der Nummer aber ein bißchen unmotiviert endet, macht klar, dass das von Portnoy gewünschte Splitting in die beiden Teile mit der Trennung zwischen Satz 2 und 3 vielleicht doch nicht die Ideallösung gewesen sein könnte. Was nun aber auf der CD kommt, hängt allerdings nicht fließend an, sondern geht autark los und stammt nicht von Distance Over Time, wie man hätte vermuten können, da bisher immer ein neuer und ein älterer Song im Wechsel gespielt wurden. Nein, hier erleben wir statt dessen einen weiteren Ausflug ins vorige Jahrtausend, und zwar „Scene Seven: I. The Dance of Eternity“ vom zweiten Metropolis-Teil. Das ist nun wirklich ein Instrumentalstück, ein hochgradig frickeliges und hochgradig geniales noch dazu – über den locker eingejammten Zirkusmarsch grinst man auch nach Jahrzehnten noch, und vielleicht hat hier ein gewisser Tuomas Holopainen mal ein wenig genauer hingehört und sich eine Inspiration geholt, wobei Dream Theater natürlich nicht die Pioniere für solche Elemente waren und ihrerseits beispielsweise bei Dmitri Schostakowitsch fündig geworden sein könnten. Die Nummer geht nahtlos in „Lie“ über, den, wie sich herausstellt, ältesten Beitrag zur Setlist (wenn man nicht davon ausgeht, dass Elemente von „The Dance Of Eternity“ vielleicht schon in einer Frühfassung von „Metropolis 2“ enthalten gewesen sein könnten – aber zumindest die früheste veröffentlichte ist ja die Ideensammlung auf dem Falling Into Infinity Demos-Doppeldecker, und der ist jünger als Awake). Aufgrund der Direktheit ist auch hier LaBries Ansage erhalten geblieben, und Petrucci läßt seine Gitarre gelegentlich quietschen, wie das in den Neunzigern im sich entwickelnden Nu Metal en vogue war und wie es Dream Theater völlig selbstverständlich in den eigenen Soundkosmos integrierten, ohne natürlich je Nu Metal gespielt zu haben. Die raumgreifenden und tiefergelegten Gitarren gewann er jedenfalls lieb und integrierte sie in der Folge in noch viele Songs, wenngleich dort dann zumeist ohne Gequietsche. LaBrie wiederum läßt das Publikum eine markante Passage mitsingen, was soundlich völlig schräg klingt, so als ob man diesen Part künstlich lauter gedreht habe, damit es eben nicht so klingt wie Wacken, letzte Reihe. Mit „Pale Blue Dot“ folgt der letzte neue Song – die vier vom aktuellen Album stehen also alle auf ungeraden Setlistnummern oder aber, wenn man das Intro mitzählt, alle auf geraden. Das atmosphärische Intro enthält ein Filmsample, das aber wieder mal sehr weit im Hintergrund vor sich hin murmelt, und ansonsten handelt es sich abermals um frickeligen, aber immer nachvollziehbar bleibenden Progmetal, bei dem im Mittelteil dem Hörer wieder mal die Kinnlade in Richtung Fußboden klappt, falls sie anhand des zuvor gehörten Sets nicht sowieso schon dort verweilen sollte. Aber was die vier Instrumentalisten hier abziehen, das gehört mal wieder zur absoluten Oberklasse, und natürlich zeigt sich auch Drummer Mike Mangini ein knappes Jahrzehnt nach seinem Amtsantritt bestens integriert. Dieser Song war offenbar der letzte des Hauptsets, denn LaBries finaler Publikumskontakt, der mitten im großen wirbelnden Finale stattfand und schon hier auf der CD partiell schwer verständlich ist (live versteht man sowas bekanntlich erst recht nicht), ist dringeblieben, und man hört immerhin ein deutsches „Dankeschön!“.
Als Zugabe kommt „As I Am“ von Train Of Thought, damit klarmachend, dass alle Alben außer dem neuen maximal einen Song stellen dürfen, aber auch ein wenig überraschend, da die Nummer in diesen Jahren ziemlich umfangreich in den Setlisten präsent war – andererseits ist das ein dankbarer Hit (LaBrie fragt im Intro folglich auch „Are you ready for this?“), in den man zudem „Enter Sandman“ einjammen kann, was Dream Theater zumindest an diesem Abend aber nicht tun. LaBrie läßt das Publikum nochmal kurz ran, aber der Klangeindruck ist dort kaum besser integriert als in „Lie“, und die Abmoderation ist auch dringeblieben, aber Publikum hört man am Schluß praktisch wieder nicht, und die Liveatmosphäre endet einfach sang- und klanglos.

In der Gesamtbetrachtung kommt Live In Berlin (2019) natürlich bei denjenigen Menschen, die Distance Over Time besitzen und sich dafür interessieren, wie die Band dieses Material live rüberbringt, vermutlich am ehesten als Kaufobjekt in Betracht, wobei der distanzierte Sound und die weiteren beschriebenen Risikofaktoren zu beachten sind, so dass Einsteiger erstmal das Studioalbum anchecken sollten und Raritätenjäger mit anderen Teilen der Serie besser bedient sind. Auch die Ausstattung des Doppeldeckers ist wie bei den anderen „offiziellen“ Teilen der Serie eher spartanisch. Hörspaß macht das Material, wenn man weiß, was man zu erwarten hat, aber natürlich trotzdem.
Bleibt abschließend zu erörtern, ob sich der Erwerb auch für Menschen lohnt, die schon die offizielle Dokumentation der Tour zu diesem Album, also Distant Memories: Live In London, besitzen. Dieses Ding besteht aus einer Doppel-DVD und einer Dreifach-CD, enthält also deutlich mehr Material, zumal in London das übliche dreistündige Vollprogramm gefahren wurde, in diesem Fall noch mit einer Gesamtaufführung des Metropolis Part 2-Albums, die natürlich ebenfalls mit konserviert wurde. Auch die Zahl der Songs von Distance Over Time stieg von 4 auf 6 – was es in London hingegen nicht zu hören gab, waren „Peruvian Skies“, „Lie“ und „As I Am“. Wer auf die drei erpicht ist und Liveversionen von ihnen sammelt, kommt um die Berlin-Scheibe also nicht herum.



Roland Ludwig

Trackliste

CD 1
1. Untethered Angel (05:55)
2. A Nightmare To Remember (15:59)
3. Fall Into The Light (07:13)
4. Peruvian Skies (06:56)
5. Barstool Warrior (06:40)

CD 2
1. In The Presence Of Enemies (Part 1) (08:49)
2. Scene Seven: I. The Dance of Eternity (06:19)
3. Lie (06:42)
4. Pale Blue Dot (08:45)
5. As I Am (08:57)

Besetzung

James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Mangini (Dr)
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So bewerten wir:

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