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The Fall Of The Shires

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Info
Musikrichtung:
Progrock / Progmetal
![]() VÖ: 18.08.2023 ![]() (Atomic Fire) ![]() Gesamtspielzeit: 41:43 ![]() Internet: ![]() http://www.oblivionprotocol.net http://www.atomicfire-records.com |

Thresholds Legends Of The Shires stellt eines der stärksten Progmetal-Alben der jüngeren Vergangenheit dar und hat die angenehme Eigenschaft, dass man sich zwar intensiv mit dem Albumkonzept beschäftigen kann, die Songs aber allesamt auch einzeln außerhalb des Konzeptes funktionieren. Keyboarder Richard West machte sich letztlich daran, eine Fortsetzung des Konzeptes zu schreiben – die Band entschied sich aber dagegen und spielte statt dessen als nächstes Album Dividing Lines ein, ein eigenständiges Werk ohne konzeptuelle Struktur.
Was macht man nun mit einem solchen unrealisierten Konzept? Man könnte es in der Schublade verschwinden lassen, bis eines Tages bandintern doch eine Mehrheit für seine Realisierung zustandekommt. Man könnte auch aus der Band aussteigen und sich eine neue suchen (bzw. eine neue gründen), mit der man dann das neue Konzeptalbum aufnimmt. West hat sich für einen dritten Weg entschieden: Er gründete mit Oblivion Protocol tatsächlich eine neue Band und spielte mit dieser The Fall Of The Shires ein, blieb aber trotzdem auch Mitglied von Threshold – und es tauchen nicht nur die anderen vier Threshold-Mitglieder in der Danksagung im Booklet auf, sondern Gitarrist Karl Groom ist sogar in den das Album rahmenden beiden Teilen von „The Fall“ mit einigen Leadgitarren zu hören. Ansonsten sind Oblivion Protocol international zusammengesetzt: Mit Drummer Darby Todd spielt noch ein weiterer Brite mit, den man z.B. von der Martin Barre Band kennen könnte, während der schwedische Bassist Simon Andersson u.a. bei Darkwater spielte und Gitarrist Ruud Jolie aus den Niederlanden kommt – durch sein Mitwirken bei Within Temptation dürfte er der bekannteste der vier Musiker sein. Kompositorisch beteiligt waren die drei Mitmusiker aber allesamt nicht: West ist Alleinkomponist, für Produktion, Mix und Mastering zuständig, und neben den Keyboards sorgt er außerdem auch noch für den Leadgesang.
Dass The Fall Of The Shires schon im Opener „The Fall (Part 1)“ musikalische Motive aus Legends Of The Shires zitiert, verwundert ob des konzeptuellen Zusammenhanges ebensowenig wie die Anlehnung bei der optischen Gestaltung. Letztere läßt allerdings schon ahnen, dass es markante Unterschiede gibt. Von der Farbe Grün, die Legends dominierte, ist nur noch wenig übriggeblieben, und wenn, dann ist es ein sehr dunkles Grün an der Grenze zum Grau, gepaart mit einem düsteren Braun – und genau diese Assoziation findet man auch in der Musik. Die acht Songs von The Fall Of The Shires kommen deutlich düsterer und karger daher, was sich übrigens auch in der Songlänge widerspiegelt – die längste Nummer schafft es nur knapp über die Sechs-Minuten-Marke. Die Landschaft aus abgestorbenen Bäumen im Inneren des Digipacks setzt bezüglich der Äußerlichkeiten neben Songtiteln wie „This Is Not A Test“, „Storm Warning“ oder „Forests In The Fallout“ dem Ganzen die Krone auf.
Auch musikalisch mischen sich in diverse Aufhellungen immer wieder düstere Welten. Macht „The Fall (Part 1)“ abgesehen von diversen Keyboardwolken und verzerrten Vocals noch einen halbwegs friedlichen Eindruck und fließt relativ entspannt dahin, so beunruhigen die computerisiert anmutenden Vokaleinwürfe mit zunehmender Spieldauer immer stärker, und das ruppige Riff unter „Tormented“ sorgt für zusätzliche Ahnungen, hier stimme irgendwas in der besungenen und beschriebenen Welt nicht. Jolie setzt zwar überraschend oft auf Akustik- oder Halbakustikgitarren, aber behagliche Stimmungen resultieren daraus nur selten, und Komponist West opfert auch einen Teil der Zugänglichkeit auf dem Altar der Story: Teile von „Public Safety Broadcast“ gäben einen erstklassigen Düster-Melodic-Rock-Hit ab, aber ein heftiger Progmetal-Mittelteil stört diesen Eindruck genauso wirksam wie der Hubschrauber, der später noch durchs akustische Gelände fliegt. Weil diese Kombination ihm so gut gefallen hat, wendet West sie in „This Is Not A Test“ gleich nochmal an, hier mit anders ausgeprägter Solostruktur. Spätestens bis hierher ist allerdings ein markanter Unterschied zu Threshold aufgefallen: Trotz gelegentlich eingestreuter ungewöhnlicher Taktarten spielt Todd insgesamt deutlich geradliniger als Johanne James, auch die Dichte etwa an Fills ist geringer. Als markanter Ausreißer darf „Storm Warning“ gelten, das zwar auch einen sehr geradlinig rhythmisierten Refrain aufweist und auch im Hauptsolo wenig Schlenker macht, aber ringsherum doch das eine oder andere ungewöhnliche Element auffährt, wenngleich nicht in dem Sinne, dass der Sturm hier alles durcheinanderwirbeln würde – aufgezogen ist er schon mit der markanten Dramatisierung am Ende des davorstehenden „This Is Not A Test“.
Gesprochen werden muß aber noch über einen anderen Faktor, nämlich den Leadgesang. Den übernimmt wie geschrieben West hier auch mit, und das wird zum Problem. Dass der Mann singen kann, weiß man aus den Gesangsarrangements für Threshold, wo er wichtige Rollen übernimmt – aber dort findet sich jeweils noch eine starke Leadstimme daneben bzw. davor. Die gibt es bei Oblivion Protocol nicht, und man kann sich während der ganzen Zeit, die The Fall Of The Shires im Player rotiert, nicht des Gedankens erwehren, wie das Material geklungen hätte, wenn hier Damian Wilson oder Glynn Morgan am Mikrofon stünden (Andrew MacDermott scheidet ja leider von vornherein aus), also Könner mit einer großen stimmlichen Variabilität und der Fähigkeit, dramatische Passagen auch mit entsprechender vokaler Dramatik umzusetzen. Gerade letztere Fähigkeit fehlt West, und so wirkt etwa das instrumental phasenweise relativ heftige „Forests In The Fallout“ mit Wests harmonisch-sphärischem Gesang irgendwie seltsam. Für die harmonisch-sphärischen Momente, die es auf der Scheibe ja durchaus auch gibt, paßt die Stimme gut, aber dort, wo es eigentlich fieser werden müßte, da kommt nichts.
Und so beschleicht einen beim Hören manchmal das Gefühl, ein (wenn auch gutes) Threshold-Demo im Player zu haben, bei dem der finale Leadgesang, ein Teil der metallischen Härte und ein paar sonstige instrumentale Kabinettstückchen noch fehlen und der Gesang nur eine Pilotspur umfaßt. Das dürfte nicht der Eindruck sein, den West gern hervorrufen wollte, und wenn The Fall Of The Shires ein Album einer x-beliebigen Band wäre, würde man bis auf das Fehlen einer expressiven Leadstimme wohl auch keine entsprechenden Mängel diagnostizieren – aber der Zusammenhang ist nun mal da. Immerhin holt West im abschließenden „The Fall (Part 2)“ nicht nur nochmal Groom an die Gitarre, sondern auch ein paar Schlenker in Richtung Pink Floyd hervor (man denkt unwillkürlich an Passagen aus „Welcome To The Machine“), was Oblivion Protocol nochmal etwas von Threshold abhebt, bevor die finale Glocke wieder auf Legends zurückverweist.
So bleibt ein irgendwie unentschlossenes Bild zurück, und gerade das Gefühl mit dem Threshold-Demo läßt sich, wenn man mit Legends vertraut ist, beim Hören von The Fall nur schwer abschütteln. Vielleicht kriegt West seine Threshold-Kollegen ja eines Tages tatsächlich noch dazu, eine Neueinspielung des Materials in diesem Bandkontext vorzunehmen – songwriterisch interessant genug ist’s allemal. Wer Legends mochte und glaubt, sich auf die Fortsetzung mit anderen Mitteln einlassen zu können, darf bei Oblivion Protocol gern ein Ohr riskieren, sollte aber eben wissen, dass er im Stil keine 1:1-Fortführung bekommt.


Roland Ludwig

Trackliste
1 | The Fall (Part 1) | 3:50 |
2 | Tormented | 4:52 |
3 | Public Safety Broadcast | 5:11 |
4 | This Is Not A Test | 6:14 |
5 | Storm Warning | 5:33 |
6 | Vertigo | 5:02 |
7 | Forests In The Fallout | 4:56 |
8 | The Fall (Part 2) | 5:59 |
Besetzung
Ruud Jolie (Git)
Simon Andersson (B)
Darby Todd (Dr)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
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