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Live At Wacken (2015)

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Info
Musikrichtung:
Prog Metal
![]() VÖ: 09.12.2022 ![]() (Inside Out / Sony) ![]() Gesamtspielzeit: 61:29 ![]() Internet: ![]() http://www.insideoutmusic.com lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net |

Als Metalband mit einem gewissen Rang sollte man eines Tages auch mal in Wacken gespielt haben – oder anders herum: Als Metalband mit einem gewissen Rang kann man davon ausgehen, eines Tages eine Einladung nach Wacken zu erhalten, wenn es nicht gerade strukturelle Gründe gibt, die einem dortigen Auftritt diametral entgegenstehen. Im Falle von Dream Theater hat es ziemlich lange gedauert, bis die Vorzeige-Progmetaller die Bretter des Ackers, die die Welt bedeuten, betraten, aber 2015 war es dann endlich soweit. Die zu diesem Zeitpunkt mit noch zwei Gründungsmitgliedern ausgestattete Formation begab sich auf große sommerliche Festivalreise, um ihr 30jähriges Bandbestehen zu feiern, und machte dabei u.a. eben am Freitag, 31.7.2015 in Wacken halt. Der Gig wurde mitgeschnitten und bildet nun einen neuen Bestandteil der Lost Not Forgotten Archives-Serie.
Für diese Tour hatten sich Dream Theater überlegt, sich chronologisch einmal quer durch ihre Karriere zu spielen. Von den neun Songs, die dabei in Wacken zur Aufführung kamen, fehlt auf der Konserve allerdings seltsamerweise einer, nämlich der jüngste und als letzter gespielte: „Behind The Veil“ vom selbstbetitelten 2013er Album, das auch 2015 immer noch den aktuellsten Studiorelease der Formation darstellte, so dass man diesen auch gleich noch mit promoten konnte und das Ganze nicht als reinen Retrotrip gestalten mußte. Dass nicht immer jedes Studioalbum bedacht werden konnte, ist bei der oft begrenzten Spielzeit auf Festivals selbst im Falle eines Headlinerslots klar – aber manchmal hat man eben doch mehr Zeit. Also baute die Band eine Setlist mit je einem Song von allen Studioalben plus einem Exzerpt aus „A Change Of Seasons“, also insgesamt 13 Nummern, die aber in Gänze lediglich bei einigen wenigen Gelegenheiten zur Aufführung kam, wenn eine entsprechend lange Spielzeit zur Verfügung stand – bei kürzeren Slots wurden jeweils einzelne Nummern entfernt. In Wacken waren 75 Minuten reserviert, von 19.30 bis 20.45 Uhr, nach Queensrÿche und vor In Flames, und diese Zeit reichte wie erwähnt für neun Nummern plus das vom Band kommende, ebenfalls vom selbstbetitelten Album stammende Intro „False Awakening Suite“, womit Stoff dieses Werkes sowohl die Grundsetlist im allgemeinen wie auch die Wacken-Setlist im speziellen rahmt. Die Wahl der Songs ist definitiv geschmackvoll – und dass der Fokus bei einem Open Air, noch dazu einem explizit metallisch ausgerichteten, eher auf härteren Nummern liegt, erscheint wenig verwunderlich, wenngleich die Band sich nicht sklavisch auf solche versteift. Aber dass James LaBrie in seiner Begrüßungsansage „Kick-ass stuff“ verspricht, darf dann schon als Fingerzeig gewertet werden.
Schauen wir also mal durch: Das Quintett eröffnet mit „Afterlife“ vom Debüt When Dream And Day Unite, einer der kompakteren Nummern und auch temposeitig durchaus viel Zug nach vorn aufweisend. Schnell fallen zwei Dinge auf: Zum einen ist der Sound als Ganzes deutlich besser ausbalanciert als beispielsweise auf den ersten Coveralben-Mitschnitten – vor allem die Keyboards von Jordan Rudess nehmen überwiegend den ihnen angemessenen Platz ein, und wenn man sich etwas wünschen dürfte, dann wäre das wieder mal ein klein wenig mehr von John Myungs Baß und in diesem Falle auch ein klein wenig mehr von den Backing Vocals. Zum anderen hatte LaBrie bekanntlich auf dem Original nicht gesungen, und so ein klein wenig scheint er auch hier mit dem Material zu fremdeln. Vielleicht ist es aber auch nur ein Zeichen von nicht hundertprozentiger Fitneß, denn auch in den nächsten beiden Songs klingt der Vokalist bisweilen ziemlich angestrengt, wobei man manchmal sogar den Eindruck hat, hier liege eine leichte Verzerrung auf seinem Mikrofon, so dass auch ein technisches Problem in Frage kommt. Diese beiden Songs sind jedenfalls welche, die LaBrie auch in den originalen Studioversionen gesungen hat: „Metropolis, Pt. I“ von seinem Einstiegsalbum Images And Words und das allerdings bewußt mit ein paar modernen Backingvokaleffekten ausgestattete „Burning My Soul“ von Falling Into Infinity – Awake ist also das erste Album, das außen vor bleibt und bei voller Spielzeit „Caught In A Web“ gestellt hätte.
Zum Wendepunkt wird „The Spirit Carries On“, die Halbballade im Set, die den Kick-Ass-Aspekt unterbricht – dem Jubel der Anwesenden zufolge ist der Aspekt, einen Song dieser Art in diese Setlist einzuflechten, nicht als Risiko zu betrachten, und anfangs hört man sogar einige mitsingen. Dieser Anfang ist allerdings durch Störgeräusche auf LaBries Mikro geprägt, entweder sehr lautes Atmen oder aber Wind – es dauert ein wenig, bis das behoben ist. Die tiefe Lage, in der der Vokalist hier zunächst zu agieren hat, paßt ihm aber gut, und vielleicht kann er sich hier etwas „freisingen“, denn im härteren Schlußteil klingt er nicht mehr ganz so angestrengt. Ob die weiblichen Vocals im Finale vom Band kamen oder ob irgendjemand als Gast auf die Bühne gekommen ist (es waren ja genug andere Bands vor Ort), können nur Dabeigewesene entscheiden – der serientypisch informationsarm ausgefallene Digi nennt jedenfalls nur die fünf Hauptmusiker.
Der Jubel am Ende von „The Spirit Carries On“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Anwesenden letztlich doch der Sinn nach Kraftfutter steht. Das weiß die Band natürlich auch und holt „As I Am“ als nächsten Song raus, also Six Degrees Of Inner Turbulence überspringend, das im vollen Set „About To Crash“ gestellt hätte, und gleich Train Of Thought anzapfend. Hier bricht der Jubel schon beim eröffnenden Riff aus – die Nummer ist also offensichtlich gut bekannt, und man staunt in der Livefassung fast noch mehr als in der Studioversion, wie sehr diese Einleitung an einen gewissen Song namens „Black Sabbath“ erinnert, natürlich übersetzt in den Dream-Theater-Sound. Bei LaBries Sprechgesangs-Breaks wiederum muß man sich disziplinieren, um nicht plötzlich in Rage-Against-The-Machine-Zeilen überzuwechseln. Aber natürlich kopieren die Amis nicht, auch nicht Metallica, an die dieser Song im Ganzen ein wenig erinnert, wobei ein Einjammen von „Enter Sandman“, das sich die Band sonst gelegentlich gönnte, in Wacken ausbleibt. Mit dem Octavarium-Beitrag „Panic Attack“ bleiben sie dann gleich auf hartem Kurs, wenngleich diese Nummer etwas luftiger zu Werke geht. Vor allem in den Soli fliegt einem das Notenmaterial nur so um die Ohren, und man liebt es genau so und nicht anders. Mike Mangini sitzt mittlerweile seit vier Jahren am Drumkit und präsentiert sich natürlich bestens eingespielt – gerade in „Panic Attack“ ist er es, der mit diversen Hyperspeed-Stakkati das Geschehen voranbringt. Dass er natürlich auch die Vorlagen von Mike Portnoy 1:1 umsetzen kann, steht außer Frage, und der Altfan freut sich beispielsweise in „Metropolis, Pt. I“ in der Passage vor der Wiederkehr der Vocals über einen dieser typischen Läufe quer über den ganzen Snare-Vorrat, wie man sie von Portnoy kennt und liebt und wie man eben hier auch von Mangini so ein Exempel bekommt. Mit „Constant Motion“ erreichen wir dann das Systematic Chaos-Album und einen seiner zugänglicheren Songs, für dessen Nachvollziehbarkeit der vokalen Strukturen es wie erwähnt nutzbringend gewesen wäre, die Backings noch ein wenig stärker nach vorn zu holen. Aber Hörspaß macht das Ganze allemal, zumal ab „As I Am“ LaBrie gesanglich immer lockerer wird oder irgendjemand den Verzerreffekt ausgeschaltet hat – auch stilistisch ändert sich hier etwas, indem der Vokalist mehr shouten darf, was ihm an diesem Abend treffsicher gelingt, so dass nach einem letzten scheinbaren Verzerranflug in „As I Am“ es bis zum Ende richtig Spaß macht, den Leadvocals zuzuhören. Selbiges Ende kommt auf der CD mit „Bridges In The Sky“, einem großen Epos mit einem der besten Refrains, die diese Band jemals erdacht hat, und das soll bei ihrem Backkatalog was heißen. Da will man nur noch den Arm um die schöne Nachbarin legen und unter dem Sternenhimmel von den dortigen Brücken und ihrer gemeinsamen Überschreitung träumen – jedenfalls dann, wenn auf dem Festival wenigstens halbwegs passendes Wetter ist, was in Wacken bekanntlich einen gewissen Risikofaktor darstellt. Dass gemeinsames Headbangen außerhalb des besagten Refrains trotzdem genaue Materialkenntnis samt Timingsicherheit erfordert, steht auf einem anderen Blatt, aber das kann man sich ja schon anhand der Studioversion vorher draufschaffen.
Sieht man von den erwähnten Knackpunkten, vor allem LaBrie in der ersten Sethälfte, ab, liegt hier also ein gelungener Mitschnitt eines sehr starken Konzertes vor – wären „Behind The Veil“ und das ebenfalls fehlende Intro noch dabeigewesen, läge der dokumentarische Wert noch höher. In der CD-Spielzeit kann das Fehlen nicht begründet sein – 61:29 Minuten lassen noch Platz für mehr, also locker für den gesamten Set. Aber sei es, wie es sei – der Gig macht auch beim heimischen Nachhören noch Spaß, und darauf kommt’s ja letztlich an.


Roland Ludwig

Trackliste
1 | Afterlife | 5:35 |
2 | Metropolis, Pt. I: The Miracle And The Sleeper | 10:17 |
3 | Burning My Soul | 5:42 |
4 | The Spirit Carries On | 7:44 |
5 | As I Am | 7:38 |
6 | Panic Attack | 7:39 |
7 | Constant Motion | 7:04 |
8 | Bridges In The Sky | 9:43 |
Besetzung
John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Mangini (Dr)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |