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Reviews

Lully, J.-B. (Dumestre, V. – Poème Harmonique)

Armide


Info

Musikrichtung: Barock / Oper

VÖ: 24.05.2024

(CVS / Naxos / 2 CD / DDD live / 2023 / CVS 123)

Gesamtspielzeit: 153:19

WENN FRAUEN ZU SEHR LIEBEN

Jean-Baptiste Lullys letzte vollendete Oper „Armide“ gilt zu Recht als sein Meisterwerk, verbindet sie doch ein faszinierendes Frauenporträt mit einer psychologisch schlüssigen Dramaturgie.
Vorlage für das Libretto ist ein Ausschnitt aus Torquato Tassos Kreuzzugs-Epos „La Gerusalemme liberata“. Dieser Bestseller aus dem 16. Jahrhundert ist mit Märchen- und Fantasy-Elementen gespickt – eine Fundgrube für die französische Barockoper mit ihrer Vorliebe für „le merveilleux“ mit Flugmaschinen und Special effects: Armida (Armide), die gefürchtete Prinzessin und Zauberin von Damaskus, trachtet ihrem Erzfeind, dem christlichen Kreuzritter Rinaldo (Renaud), nach dem Leben. Doch als er wehrlos vor ihr liegt, verliebt sie sich in ihn. Kurzerhand bindet sie ihn mit ihren magischen Kräften an sich und genießt die Illusion seiner Zuneigung – bis ihn zwei Freunde im Liebesnest aufspüren, den Bann brechen und Renaud auf den Heldenweg des Kriegers zurückführen. Die verlassende Armide steigert sich in immer größere Verzweiflung und Wut, bis sie zuletzt ihr Zauberschloss zerstört und in die Lüfte entschwindet…

Inzwischen existieren mehrere maßgebliche Einspielungen, die sich deutlich voneinander unterscheiden und das Spektrum dessen, was jeweils als historisch informierte Aufführungspraxis gilt, exemplarisch abbilden: Es gibt die herbstlich gestimmte Interpretation von Philippe Herreweghe von 1992 (harmonia mundi), William Christies opulente Bühnenversion auf DVD (2008, Naxos) sowie den weiträumigen, rhythmisch und deklamatorisch ausgeschärften Live-Mitschnitt von Christophe Rousset (Aparté, 2015). Und nun folgen 2024 Vincent Dumestre und Le Poème Harmonique mit einer weiteren Fassung aus der Schlossoper von Versailles. Da die Produktion ursprünglich für die Oper von Dijon entstand, ist auch der dortige Opernchor beteiligt.

Dumstre favorisiert eine dynamische Belebung des Orchesterpart durch viele kleinteilige Crescendi- und Diminuendi-Akzente und eine prägnante pulsierende Phrasierung. Die Tempi sind lebhaft, manchmal wirklich mitreißend wie in den Tänzen des 3. und 4. Aktes. Obwohl kein Schlagzeug beteiligt ist, meint man doch des Öfteren, eines zu hören. Im Ganzen ist diese „Armide“ im Duktus gespannter, aber auch „nervöser“ als die Vorgängerproduktionen.

Eine Freude ist der variable Continuo-Part mit seinen vielen tonmalerischen Stellen und Einsätzen an den Szenen-Übergängen sowie die orchestrale Differenzierung bei den Präludien und Tänzen. So überzeugt z. B. in der Betörungsszene im 2. Akt der Einsatz der solistischen Streichbässe für die instrumentalen Airs; sie klingen wie Gambenduette, auch wenn diese Instrumente in der Besetzungsliste nicht ausgewiesen sind. Dumestres farbsensible Deutungen stoßen gewiss neue Türen in Lullys strenges Opernuniversum auf.
Die mit ekstatischen Schwung dargebotene monumentale Passacaille-Szene des 5. Aktes gerät den Interpret:innen zu einem Höhepunkt: Die erotische Verzauberung des Augenblicks und der unaufhaltsame tragische Schluss, auf den die Oper zusteuert, existieren in den permanenten Variationen dieses Vexierbildes gleichzeitig.

Die Vollblutsängerin Stéphanie d’Oustrac hat sich die Rolle der Armide ganz zu eigen gemacht und der Figur bereits unter Christies Leitung einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Ihre Zauberin ist sehr menschlich, durchlebt alle Emotionen existentiell und rückhaltlos. Wenn D’Oustrac nun erneut mit ihrer unverwechselbaren Stimmfarbe jeden Ton und jede Silbe mit Ausdruck auflädt und sich gleich von Anfang in einem steten emotionalen Ausnahmezustand bewegt, verlieren sich mitunter der große Bogen der Musik und schließlich die Figur der Armide selbst in einem „Mikro-Espressivo“. So sticht der berühmte Monolog „Enfin, il est en ma puissance“ gerade wegen des interpretatorischen Drucks nicht sonderlich heraus: Wo jeder Moment zum Ereignis wird, heben sich die Höhepunkte irgendwann gegenseitig auf.
Zum Vergleich höre man Marie-Adeline Henry unter Rousset in derselben Rolle: Der Vortrag ist weniger überhitzt, aber trotzdem ausdruckssatt. Allein wie hier mit kunstvoll gedehnten Generalpausen Spannungen erzeugt werden, unterstreicht eindrücklich die Besonderheit des Moments.

Cyril Auvity in der Rolle des Renaud bietet dagegen den größtmöglichen Kontrast durch eine betont sensible und lyrische Darstellung mit delikaten Höhen. Er hat mit dem feinsinnigen Monolog „Plus j’observe ces lieux“ Gelegenheit, sich als empfindsamer Gegenpart zum Amazonen-Charakter der Armide zu profilieren. Auch im weiteren Verlauf der Oper bleibt deutlich, dass beide eigentlich nicht viel gemeinsam haben und allein Armides Liebeszauber den unaufhebbaren Gegensatz für eine gewisser Zeit „neutralisiert“.

Die Nebenrollen sind mit Kräften wie Tomislav Lavoie, Eva Zaïcik, Timothée Varon, Marie Perbost, David Tricou oder Virgile Ancely durchweg gut oder sehr gut besetzt. Marie Perbost und Eva Zaïcik verkörpern sowohl die Vertrauten Armides wie auch die verführerischen Phantome jener Frauen, die die Ritter-Freunde Renauds von dessen Rettung abhalten möchten, mit einem schönen und differenzierten Ton.
David Tricou sowie Virgile Ancely machen nicht nur als Ritter eine gute Figur. David Tricou setzt als glücklicher Liebender vor allem der Passacaille noch mal tenorale Glanzlichter auf. Timothée Varon tritt als Verkörperung des Hasses mit D’Oustrac im 3. Akt in einen dramatischen Dialog, bei dem man unsicher ist, ob Armide am Ende nicht doch erliegen und der Liebe abschwören wird. Varon er verfügt über mehr vokale Reserven als Tomislav Lavoie, der als Magier Hidraot noch etwas mehr düstere Wucht hätte mitbringen dürfen.

Gelegentliche Bühnengeräusche und ein natürliches Klangbild deuten darauf hin, dass zumindest Teile des Werkes live mitgeschnitten wurden. Mit dieser vibrierend ausdrucksstarken und fantasievollen Produktion ist dem Label CVS erneut eine bedeutende Aufnahme eines der ikonischen Werks des 17. Jahrhunderts gelungen.



Georg Henkel

Besetzung

Stéphanie d'Oustrac, Cyril Auvity, Tomislav Lavoie, Eva Zaicik, Timothée Varon, Marie Perbost, David Tricou u.a.

Le Poème Harmonique

Vincent Dumestre, Leitung
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