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Reviews

Lully, J.-B. (Rousset, Chr. – Les Talens Lyrique)

Atys


Info

Musikrichtung: Barock / Oper

VÖ: 02.02.2024

(CVS / Naxos / 3 CD / DDD / 2023 / CVS 126)

Gesamtspielzeit: 172:00

EIN KÖNIGLICHES MUSIKDRAMA

Im Zuge ihrer Gesamteinspielung widmen sich „Les Talens lyrique“ und Christophe Rousset nach „Thesée“ nunmehr der chronologisch folgenden vierten Oper von Jean-Baptiste Lully und Philippe Quinault: „Atys“ (1676) war eine ihrer erfolgreichsten Kooperationen, unter anderem berühmt für den echt tragischen Ausgang mit dem Tod des Helden sowie eine betörende Schlummerszene. Der stets in neue Damen seines Hofes verliebte Ludwig XIV. konnte sich in den Herzensregungen des zwischen Neigung und Pflicht hin und hergerissenen Atys, dem zur Keuschheit verpflichteten Hohepriester der Cybéle, trefflich porträtiert sehen. Er schätzte das Werk so sehr, dass "Atys" den Beinamen „Oper des Königs“ erhielt.

Mit „Atys“ begann 1987 zugleich die Lully-Renaissance auf der Bühne und CD. Die Pioniertat von William Christie und Les Arts Florissants bei Harmonia Mundi besticht immer noch wegen ihrer Schönheit, Sorgfalt und sensibel-dramatischen Atmosphäre. Sie geht zurück auf eine legendäre Inszenierung von Jean-Marie Villégier, die 2011 ebenfalls unter Christie, aber mit neuer Vokalbesetzung, reproduziert und auf DVD verewigt wurde (jüngst neu veröffentlicht bei NAXOS).
Kurz davor, 2010, widmet sich Hugo Reyne mit seiner „Simphonie du Marais“ dem Werk – eine edel timbrierte Version, die eine bemerkenswerte Riege junger Sängerinnen und Sänger ins Spiel brachte. Reyne war seinerzeit einer der Flötisten bei Christies erster Fassung, im Rückblick ein regelrechtes Sammelbecken späterer Barockdirigenten (unter anderem Marc Minkowski, der hier noch als Fagottist dabei war, sowie Hervé Niquet, der im Chor mitsang).
2022 nun folgt der einstige Christie-Assistent Rousset, der 1987 den Cembalopart gespielt hat. Er hat den Ansatz Christies individuell weiterentwickelt, verleugnet dabei nie seine Prägung durch „sein“ Instrument, das Cembalo, dessen Klarheit und Präzision er auf den Vokal- und Orchesterklang Lullys projiziert.

Les Talens Lyrique“ wissen, was ihr Leiter möchte und was Lully braucht. Wie schon bei den Vorgängerproduktionen setzten sie es mit Verve und Feinsinn um. Wir hören einen spannungsvoll konturierten, sehr geschmeidigen und zugleich rhythmisch federnden Orchestersound. Zwischen pointierten Lichreflexen, atmosphärischen Halbschatten und markanten Schraffuren ist alles da, was Lullys strenge Kunst lebendig werden lässt. Auch ein attraktiver herrisch-pathetischer Gestus, gleichsam als Signet des "grand siècle", kommt nicht zu kurz. Dass die Besetzung eher klein ist und die Besetzung der Continuogruppe nicht ganz den im Booklet beschriebenen historischen Verhältnissen entspricht, fällt nicht wirklich ins Gewicht.

Vor allem die detailreich ausgestalteten Rezitative tragen die Oper mühelos über die drei Stunden – souverän formt Rousset mit seinen Musiker:innen die Spannungspunkte, weiß durch geraffte Tempi oder auch dramatische Verzögerungen und Stille-Pausen Höhepunkte zu akzentuieren: empathische Deklamation im besten Sinne. Man versteht sogleich, wieso das damalige Publikum vor allem vom 1. Akt angerüht war, nicht trotz, sondern wegen der ausladenen Rezitative - denn die inneren Bewegungen der Figuren, ihre emotionalen Verwirrungen und Schmerzen, können sich auch heute noch mitteilen, wenn die Musik so eindringlich und auf den Punkt genau realisiert wird wie hier.
Dies alles bei einem flüssigen Tempo, ohne zu treiben. Dabei unterwirft Rousset auch die ikonische „Schlummerszene“ des 3. Aktes seiner stringenten Regie. Statt eine Aus-Zeit zu inszenieren, bei der die Aktion praktisch stillsteht – um das Publikum zu betören und zu hypnotisieren – bettet er das flötenselige „Prelude“ mit dem folgenden Terzett der Götter des Schlafes und des Traumes in den unaufhaltsamen Fortgang des Dramas ein. Wegen abweichender Instrumentierung in den handschriftlichen Quellen hat sich Rousset entschieden, diese Szene nicht mit Block-, sondern Traversflöten zu besetzen, was den ätherischen Charakter betont. Die Blockflöten bleiben den etwas volkstümlicheren Tänzen und pastoralen Szenen vorbehalten.
Die Handlung kulminiert in der Konfrontation der Liebenden (Atys, Sangaride) mit den Eifersüchtigen (Cybéle, Cénélus) im 4. Akt sowie dem Tod der Sangaride durch den wahnsinnigen Atys im 5. Der unglückliche Held nimmt sich das Leben, wird aber durch Cybéles Machtspruch in eine Pinie verwandelt. Gleichwohl betrauert die Göttin mit ihrem Gefolge in einem großen Finale sein Geschick, das sie selbst heraufbeschworen hat.

Vokal schöpft Rousset wieder aus einem Ensemble bewährter und neuer Kräfte. Neben dem unbestechlichen Kammerchor von Namur, der zwischen feierlichen, kämpferischen, klagenden und bukolischen Vokalfarben mühelos hin- und herwechselt, sind es nicht zuletzt die durchweg vorzüglichen Solist:innen, die diesen „Atys“ zu einer wahrhaft königlichen Neuproduktion mit Referenzcharakter machen.
Herausragend die zwischen lockender Sinnlichkeit, Rachsucht und Erschütterung changierende Cybéle der Ambroisene Bré. Mit ihrem dunkelblutroten Timbre sowie einem Schuss sinnlicher Wildheit verköprert die Sängerin die Göttin wahrlich hinreißend, so dass diese zur geheimen Hauptfigur avanciert. Zusammen mit dem eindrücklich deklamierenden und virilen Cénélus des Philippe Estéphe verleiht Bré dem Antagonisten-Paar eine bezwingende dramatische Energie.
Dazwischen können Reinoud van Mechelen als Atys und Marie Lys als Sangaride ihr vieldeutiges Liebeswerben inszenieren. Van Mechelen kann kühl und kontrolliert wie auch auflodernd bis zur Verzweiflung klingen, bleibt dabei immer menschlich – er beherrscht den charakteristischen hohen französischen Tenorgesang perfekt und aktuell dürfte es kaum eine bessere Besetzung für die Titelrolle geben. Anrührend sind hingegen die jugendfrischen, leuchtenden Farben, die Marie Lys der Sangaride schenkt, innig nicht nur im berühmten Air „Atys est trop heureux“.

So folgt man dem sich konsequent entwickelnden Drama bewegt bis zum oratoriumartigen Finale, bei dem die Klagen der Cybéle und des Chores einander abwechseln und steigern: gewiss ein Höhepunkt von Lullys musikdramatischer Architektonik, der den selbstgesetzten Anspruch, der Tragödienkunst der Antike fortzusetzen und zugleich zu übertreffen, einlöst.

Diese Produktion ist ein großer Wurf und ragt auch unter den vielen guten Lully-Einspielungen Roussets noch einmal heraus. Von den Opern Lullys fehlen in der Diskographie des Ensembles jetzt nur noch zwei: Aus dem Mittelfeld „Proserpine“ sowie die allererste, „Cadmus et Hermione“. Vielleicht könnte man in der Zwischenzeit einmal den herrlichen „Roland“ wiederveröffentlichen, der 2004 beim inzwischen nicht mehr existenten Label Ambroisie erschienen ist, eine schmerzliche Lücke im Katalog.



Georg Henkel

Besetzung

Reinoud van Mechelen, Marie Lys, Ambroisine Bre, Philippe Estephe u. a.

Choeur de Chambre de Namur

Les Talens Lyriques

Christophe Rousset, Cembalo & Leitung 
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So bewerten wir:

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