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Reviews

Weber, C. M. v. (Jacobs, R.)

Der Freischütz


Info

Musikrichtung: Romantik Oper

VÖ: 29.04.2022

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / 2 CD / DDD / 2021 / Best. Nr. HMM 901270001)

Gesamtspielzeit: 138:00

ROMANTISCHES WELTTHEATER

René Jacobs, einer der kreativsten Köpfe der historisch Informierten Aufführungspraxis, kreiert immer wieder erhellende Opernaufnahmen: originelle Einzelanfertigungen, philologisch scharf durchleuchtet und theaterprall ins Leben hineinmusiziert, ohne Furcht vor dem Bruch mit Konventionen.

Da macht Jacobs Annäherung an Webers „Freischütz“, diese Ikone der deutschen National-Romantik, keine Ausnahme. Im Gegenteil: Jacobs setzt seinen Bemühungen um eine neue Sichtweise noch eins drauf, wenn er die ursprüngliche Konzeption des Werks durch den Librettisten Friedrich Kind ernst nimmt und unter anderem einen von Weber unvertonten Prolog nachkomponiert. Jener weise Eremit, der in der geläufigen Fassung schließlich alles zum guten Ende wendet, etabliert gleich am Anfang manche Motive, die im späteren Verlauf der Oper wichtig werden und sorgt für eine ideelle Rahmung. Dramaturgisch macht das viel Sinn, wirkt freilich auch etwas verzögernd, wenn man den knalligen „Viktoria“-Chor im Ohr hat, mit dem es ansonsten gleich in medias res geht.

Musikalisch-stilistisch ist das freilich so stimmig gelöst, als wäre es von Weber persönlich. Aufgewertet wird auch die Rolle des dämonischen Samiel, der als Geister-Sprechstimme durchweg präsent ist (manchmal, wie in der Wolfsschlucht-Szene, vielleicht schon zu sehr). Mit diesen Zutaten wirkt die Oper nun wie ein romantisches Echo jener barocken Gesamtkunstwerke à la Monteverdi, Cesti und Cavalli, mit denen Jacobs einst seine Dirigenten-Karriere begonnen hat: Zwischen Himmel und Hölle und ihren jeweiligen Agenten entscheidet sich das Schicksal der Menschen auch im „Freischütz“.

Zwar haftet dem Werk immer auch ein wenig der Geruch eines in die Jahre gekommenen „Repertoirschinkens“ an. Bei Jacobs aber hat der aber viel von interpretationsgeschichtlichen „Schwarte“ verloren. Wir erleben die Oper als regelrechtes Hörspiel. In dieser 1821-2021-Version begegnen sich Jahrmarkt, derbes Volkstheater und Komödie, es mischen sich Singspiel und große Oper, grelle Schauergeschichte und nazarenerfrommes Andachtsstück. Durch die Betonung des Patchworkcharakters wirkt die Oper geradezu modern; die behutsame Aktualisierung der Sprechtexte tut ein übriges. Und wenn der Samiel sich von Anfang an ins Geschehen einmischt und Kaspar oder auch Max seine unheiligen Ideen einflüstert, dann ist das fast schon ein bisschen Jungsche Schattenpsychologie. Die vielen Klangeffekte und Geräusche, z. B. wenn die Freikugeln nach dem Guss metallisch scheppern, sorgen für Atmosphäre. Alles ist auf Plastizität, auf Farbigkeit angelegt. Man sieht sehr viel beim Hören. Musik-Theater eben.

Das famose Freiburger Barockorchester sorgt mit dunklen Waldfarben, flotten Tanztönen, schrillen Höllenflötchen und wild schmetternden Hörnern für hinreißende Instrumentalmomente. Wenig bleibt übrig vom gefällig-tümeligen, neowagnerischen Sostenuto.
Das gilt auch für die SängerInnen-Riege, die aus jungen „leichten“ Stimmen besteht, die dem Werk eine durch die Aufführungstradition verdrängte Spontaneität und, ja: sogar Unschuld und vor allem Märchenzauber zurückgeben. Es ist ein Versuch, die Opernwelt des frühen 19. Jahrhunderts in die Gegenwart zu projizieren. Man sollte diese Interpretation unbelastet von den großen Aufnahmen der Vergangenheit hören. Das Ensemble macht sich mit viel Spielfreude für das Werk stark, auch wenn nicht alle SängerInnen Muttersprachler oder geborene SchauspielerInnen sind. Da wirkt dann mancher Text doch etwas einstudiert, vor allem in den Sprechpartien.

Zugleich hat der eine oder andere Akzent einen gewissen Charme, vor allem beim quirligen Duo Ännchen und Agathe (mädchenhaft sensibel: Polina Pasztircsák, vielschichtig im Ausdruck: Kateryna Kasper). Der finster-joviale Kasper des Dmitry Ivashchenko, ein imposanter Charakterbass, bekommt dadurch eine attraktive exotische Note.
Christian Immler als Eremit klingt nobel und wahrhaftig, wirkt stimmlich freilich recht jung für seine „90-Jahre-alt“-Rolle – man kann ihn sich nur mit einem falschen Rauschebart vorstellen.
Der Max des Maximilian Schmitt ist unüberhöbar ins lyrische Fach gewechselt und vereint überzeugend jugendlichen Übermut mit romantisch-zerrissener Seelenpein, ohne zum heldischen Proto-Siegfried zu mutieren (wie es bei manchen von Schmitts Vorgängern der Fall ist).
Die Rolle des Grafen Kuno, der in der herkömmlichen Version nur sprechen darf, wird ebenfalls durch eine Ballade aufgewertet – hier diente ein Schubertlied als musikalische Vorlage. Mathias Winckhler verleiht ihm eine passgenau aristokratische, ebenfalls ziemlich jugendliche Präsenz.
Diabolische Akzente über die ganze Gänsehaut-Klaviatur setzt der Samiel von Max Urlacher, der seinen Part lustvoll auskostet.
Schließlich verdient auch der Chor, die sehr präzise, mal archaisch wild und dann wieder madrigalesk delikat singende Zürcher Sing-Akademie, höchstes Lob.

Also: Ein insgesamt überzeugender Wurf, der sich was traut. Ein vielschichtiges Musiktheater-Spektakel und akustisches Gesamtkunstwerk - ein „Freischütz“ für die Hörbühne!



Georg Henkel

Besetzung

Maximilian Schmitt, Polina Pasztircsak, Kateryna Kasper, Dmitry Ivashchenko, Yannick Debus, Mathias Winckhler, Christian Immler

Zürcher Sing-Akademie

Freiburger Barockorchester

René Jacobs, Leitung
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