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Reviews

Rameau, J.-Ph. (Christie, W.)

Platée


Info

Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 20.08.2021

(Unitel Edition / Naxos / 2 DVD / 2020 / Best. Nr. 804708)

Gesamtspielzeit: 170:00

EIN QUEERER KOMÖDIENTRAUM

Mit seiner Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus komödiantischer Ballett-Oper „Platée“ am „Thetater an der Wien“ hatte Regisseur Robert Carsen bereits bei der Premiere 2015 eine Art Universalschlüssel für diese Mythenparodie gefunden. Fünf Jahre später passt dieser Schlüssel immer noch. Es dankt das Publikum, das der Wiederaufnahme coronabedingt nur am Bildschirm folgen durfte und jetzt die Aufzeichnung auf DVD und Blueray genießen kann.

Kurzerhand verlegte Carsen die antike Story um die grandios hässliche Sumpfnymphe Platée, der Chefgott Jupiter die Ehe verspricht, um seine Ehefrau Juno von deren Eifersucht zu kurieren, in die glitzernde Pop- und Modewelt von heute.
Und da fügt sich dann alles wie von selbst: Aus dem Sumpf wird eine Mischung aus Disko, Schickeria-Restaurant, Luxus-Spa und Modetempel; Jupiter tritt auf wie Karl Lagerfeld (Schmusekatze inklusive), seine Gattin Juno sieht aus wie Coco Chanel; "La Folie", die personifizierte Narrheit, legt im Stil von Lady Gaga einen furiosen Auftritt hin. Und die Sumpfnymphe Platée wird zur White-Trash-Diva mit der Statur einer Rubensfrau. Das übrige Personal aus dem Götterhimmel und dem Gefolge der beiden fügt sich da in diversen Assistenz- und Service-Figuren ganz ungezwungen ein.

Carsens vorwärtstreibende Fantasie lässt sich auch von der für heutige Verhältnisse verschnörkelten barocken Dramaturgie der Vorlage nicht bremsen. Denn da sind diverse Tanzeinlagen und komische Aufzüge vorgesehen, die den Fortgang der Handlung unterbrechen. Nicht aber hier: So werden z. B. die diversen Maskeraden, in denen Jupiter Platée zunächst erscheint, um sie zu erschrecken oder sich über sie lustig zu machen – u. a. wählt er die Gestalt eines Uhus und Esels – im Stil einer Haute-Couture-Modenschau inszeniert, mit extravaganten Kostümen, die wie ein queerer Traum aus der legendären New Yorker Disko „Studio 54“ wirken.

Diese „Platée“ hat die Anmutung einer grotesken Party, wahrlich eines „Käfig voller Narren“, mit perfektem Timing für die kleinsten Details und Sinn für die tragischen Töne des Ganzen. Denn die Demütigung Platées am Ende ist grausam und die Jupiter-Show wird in ihrer Abgründigkeit entlarvt. Auf gewisse Weise bekommt man die neue höfische Instagram-Welt von heute mit ihrer Tratsch- und Spektakelsucht, ihrer Oberflächlichkeit und ihrem Dünkel ebenso vorgeführt wie weiland 1745 dem Publikum die Dekadenz des Ancien regime gespiegelt wurde, als das Werk zur Hochzeitsfeier Ludwig XV. in Versailles zur Aufführung gelangte.

Zum szenischen kommt hier das musikalische Glück hinzu: William Christie und „Les Arts Florissants“ entdecken noch einmal neue Farben, Humor, Schönheit und Traurigkeit in Rameaus genialer Partitur. Der „Arnold Schoenberg Chor“ brilliert in diversen Szenen als ebenbürtiger Partner.
Und die Solistenriege ist erstklassig: Allen voran natürlich Marcel Beekman. Der niederländische Tenor hat mit Platée wohl die Travestie-Rolle seines Lebens gefunden. Mit vokaler Charakterisierungskunst, körperlicher Präsenz und einem rückhaltlosen Einsatz, der sich, wie man so schön sagt „vor nix fies ist“, erweckt er dieses großartige Porträt zum prallen Bühnnleben. Sein besonderes Timbre und das Spiel mit vokalen wie physischen Grimassen fasziniert, betört, verstört. Seine strunzvitale und irgendwie bewunderungswürdige Platée wird am Ende alle anderen Versionen überleben.

Auch bei den Kolleg:innen verbinden sich Spielfreude und Sangeskünste aufs Schönste. Cyril Auvity und Marc Mauillion sind jeweils in einer Doppelrolle zu sehen und gehen mit Madame Platée gewollt oder doch eher ungewollt auf Tuchfühlung. Das wird ebenso lustvoll ausgespielt bzw. -gesungen wie die Coolness, mit der Edwin Crossley-Mercer den Jupiter-Lagerfeld gibt. La Folie, die heimliche närrische Herrscherin in diesem Zirkus, hat in Jeanin de Bique eine famose Performance-Künstlerin, die in ihrer berühmten Arien-Parodie den Belcanto aufs Korn nimmt. Auch die kleineren Rollen sind trefflich besetzt, hier profitiert man von der oft langen Erfahrung mit diesem anspruchsvollen Repertoire und der inspirierenden Zusammenarbeit mit William Christie.

In Summa ein ebenso vergnügliches wie intelligentes Fest für Augen, Ohren, Zwerchfell!



Georg Henkel

Trackliste

Aufführung inkl. 32 Minuten Bonus-Interviews: 170:00

Besetzung

Marcel Beekman, Jeanine de Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Emilie Renard u. a.

Arnold Schoenberg Chor

Les Arts Florissants

William Christie, Leitung

Robert Carsen, Regie

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