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Reviews

Charpentier, M. A. - Cavalli, F. - Beretta, F. u. a. (Daucé, S.)

Messe à quatre chœurs H. 4 u. a.


Info

Musikrichtung: Barock - Geistliche Musik

VÖ: 30.10.2020

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD / DDD 2019 / Best. Nr. HMM 9026640)

Gesamtspielzeit: 79:38

BERAUSCHENDE KLANGARCHITEKTUR

Passend zu den Illusions- und Überwältigungsarchitekturen der italienischen Barockkirchen entwickelten die dort tätigen Kapellmeister seit dem späten 16. Jahrhundert eine Kirchenmusik, bei der mehrere im Raum verteilte Ensembles miteinander konzertierten. Diese Surround-Akustik ließ die Zuhörenden buchstäblich in den Klang eintauchen und versetzte sie nicht nur optisch, sondern auch akustisch in eine Vision zukünftiger himmlischer Herrlichkeiten.

Vom Klangrausch, der sich auf diese Weise entfesseln ließ, vermittelt auf der vorliegenden Aufnahme z. B. das dreichörige „Magnificat“ von Francesco Cavalli einen mitreißenden Eindruck. Auf kleinem Raum wechseln Soli-, Ensemble- und Tutti-Besetzungen, in immer neuen Wellen steigert sich die Dynamik, die ineinanderfahrenden Vokal- und Instrumentalchöre erzeugen ein herrliches Farbspiel; die Musik erglüht in rotgoldener Pracht und Herrlichkeit, wobei es Cavalli versteht, im Getümmel wieder Inseln der Intimität und Ruhe zu schaffen: Andacht und Ekstase.

Es müssen Impressionen wie diese gewesen sein, die beim jungen französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier auf fruchtbaren Boden fielen. Auf seiner italienischen Bildungsreise im Jahr 1665 besuchte er die damals maßgeblichen musikalischen Zentren: Venedig, Cremona, Bologna, Rom. Dort studierte er den in seiner Heimat verfemten italienischen Stil mit seinen „unnatürlichen“ harmonischen und melodischen „Exzessen“. Auf der vorliegenden Aufnahme sind Komponisten mit ihren Werke versammelt, die Charpentier auf seiner Tour kennengelernt haben könnte: Neben Cavalli z. B. Tarquinio Merula, der mit einer virtuosen Solomotette für Bass und konzertierendes Violin-Duo vertreten ist. Oder Francesco Beretta und Orazio Benevoli, Meister eines römischen „Kolossalbarocks“, der besonders in großformatigen Messkompositionen seinen Ausdruck fand. (Gerne hätte man die herrliche Beretta-Missa in Gänze gehört - offenbar gibt es immer noch genug zu entdecken!)

Charpentier hat diese Anregungen ohne die ästhetischen Ohrenschützer seiner Landsleute aufgenommen und das italienische Verständnis für polyphone Architekturen und flamboyante Klangsinnlichkeit ins Französische übersetzt. Eine frühe Frucht seiner italienischen Lehrzeit ist die „Messe à quatre chœurs“, ein Auftragswerk des Theatinerordens in Paris anlässlich der Heiligsprechung ihres Gründers. Die satztechnische Meisterschaft Charpentiers offenbart sich bei diesem Mess-Unikum ebenso wie sein Gespür für eine abwechslungsreiche harmonische Wortausdeutung.
Daucé realisiert mit seinem Ensemble die Gleichzeitigkeit von Leidenschaft und Kontemplation, von Sinnlichkeit und Formkunst in beiden Repertoires auf höchstem Niveau. Die obertönige Farbgebung der Sänger*innen korrespondiert sehr schön mit dem breiten sonoren Spektrum der historischen Instrumente. Bei einem insgesamt vollreifen, durch die Kirchenaktustik des Aufnahmeortes angemessen verstärkten Klangbild musiziert das vielköpfige Ensemble leuchtstark und intensiv, aber auch strukturbewusst. Daucé arbeitet vor allem bei Charpentier die Kontraste und die feingearbeitete Polyphonie heraus – jedoch stets im Wissen um die erhabene Klangwirkung. Ist das vielleicht typisch für den französischen Geschmack? Zum Vergleich: Jeffrey Skidmore hat 2004 mit dem Ex Cathedra Choir & Orchestra Charpentiers Messe eher von ihren italienischen Stilmerkmalen her gedeutet; das in seiner Fröhlichkeit und Motivik sehr mediterrane "Agnus Dei" nimmt Daucé zurückhaltender, während Skidmore sein Ensemble insbesondere hier feurig und schwungvoll agieren lässt (man versteht sofort, wieso die französischen Musikfreunde Charpentier ins gegnerische italienische Lager einsortierten!) Beide Lesarten haben ihre Berechtigung. Die neue Aufnahme ist ein weiterer Markstein in der bemerkenswerten Diskographie des "Ensemble Correspondances".



Georg Henkel

Trackliste

Geistliche Werke von Francesco Beretta, Francesco Cavalli, Giuseppe Giamberti, Marc-Antoine Charpentier, Maurizio Cazzati, Orazio Benevoli, Tarquinio Merula

Besetzung

Ensemble Correspondances

Sébastian Daucé, Leitung

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