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Reviews

Schubert, F. (Lonquich, A.)

Schubert 1828 (Späte Sonaten und Klavierstücke)


Info

Musikrichtung: Romatnik Klavier

VÖ: 09.11.2018

(Alpha / Outhere / 2 CD / DDD / 2017 / Best. Nr. ALPHA 433)

Gesamtspielzeit: 154:32

MUSIKALISCHE PSYCHOGRAMME

Die drei späten Klaviersonaten von Franz Schubert D. 958-960 als musikalische Psychogramme, als komponierte Seelenlandschaften eines romantischen Künstlers - was wie ein Klischee klingt, gewinnt in der Interpretation von Alexander Lonquich eine mitunter bestürzende Wahrheit und Dringlichkeit. Wer jetzt freilich erhabene Melancholie und, bei allem Schmerz, Abgeklärtheit erwartet, der dürfte bei dieser Einspielung immer wiederüberrascht werden. Diesen seelentröstenden, peinvoll schönen Schubert gibt es freilich auch, man kennt schon von anderen, auch maßstabsetzenden Einspielungen, seien sie auf dem Fortepiano historisch orientiert (z. B. Andreas Staier) oder auf dem großen Flügel mit großer Sensibilität realisiert (z. B. Mitsuko Uchida).

Lonquichs Schubert aber ist vor allem bei den ersten beiden Sonaten oft sperrig, mitunter ungemütlich, aber eigentlich kaum tröstlich in dem Sinne, dass er dem Hörer eine befreiende Katharsis gönnt. Obschon auf einem modernen Instrument eingespielt, wirkt der Klang eher gedämpft und matt, kammermusikalisch konzentriert. Die Referenz ist das historische Hammerklavier. Bei Lonquich hört man eine romantische "musica reservata", bei der die Musik in einen intimen Dialog mit dem Spieler und einzelnen Zuhörern tritt. Der gleichsam nackte, unverschleierte Klang dient Lonquich für eine seismographisch genaue Darstellung weniger des reinen Notenbilds, als der existentiellen seelischen Bewegungen, die er darin entdeckt.

Die Oberfläche der Musik ist noch mehr als bei anderen Interpreten unruhig, fragmentiert, in ständiger Bewegung. Das ist in Schuberts späten Sonanten und ihrer gleichsam ziellos umherschweifenden Musik per se angelegt. Lonquich deutet diesen rhapsodisch-schweifende Moment der Musik aus dem Geist von Schuberts düsterem Liederzyklus "Die Winterreise" als auswegloses Dahineilen; zugleich wird die Musik wie z. B. im ersten Satz der 2. Sonate D 959 oft von Stauchungen und Stockungen heimgesucht, die sich dem Fluss der Musik entgegenstemmen.
Im labyrinthischen Gefüge der Musik irrt das lyrische Ich umher, getrieben, rastlos und zugleich doch nie sein Ziel erreichend - Assoziationen an Romane von Franz Kafka drängen sich auf. Die plötzlichen Entladungen im folgenden Andantino-Satz sind kein Befreiungsschlag; die angestauten Energien entweichen nicht, vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass sich lediglich ein erschöpfender manischer Ausbruch ereignet, bevor die Musik buchstäblich in auswegloser Depression versinkt. Da mag man weder den heiteren Momenten im anschließenden Scherzo noch den gelösteren Klängen im Rondo Allegretto des Finales wirklich trauen. Erst in der 3. Sonate öffnen sich, vor allem im entrückten 2. Satz, größere Räume: eine Transzendierung des Schmerzes in der Hingabe an das, was ist.
Immer wieder gelingt es Lonquich, einschliffene Hörerwartungen bei den drei Sonaten zu durchkreuzen, optimistische Momente in der Musik als trügerische Einbildungen zu dekonstruieren, "Löcher" und "Falltüren" in der Musik zu entdecken, die man bislang überhört hat. Dann wieder bricht er gleichsam den Satz von innen her auf, so dass aus einzlenen Motiven lichte Momente reinster, geradezu abstrakter Schönheit einstrahlen können, wie durch vorüberjagende Wolken. Die von Schubert immer wieder einkomponierten "himmlischen" Längen werden herausfordernd ausgespielt. Da scheint dann die Musik oft aus dem Moment heraus entwickelt, man meint, in all dem sensibel Zögernden und suchend Tastenden, dem Komponisten bei der Arbeit zuzuhören und bei der Entstehung der Musik dabei zu sein.

Ausgesprochen dienlich dafür ist Lonquich seine gleichsam 3-D-Interpretation, bei der die einzelnen Schichten und Motivstränge durch eine sorgfältige Artikulation und Dynamik sowie eindrücklich gesetzte Pausen plastisch herausgearbeitet werden. Das kann man als maniriert empfinden und mitunter droht der große Zusammenhang dadurch brüchig zu werden, aber den große Bogen verliert Lonquich nicht wirklich aus den Augen, die Fragilität ist für ihn der Musik eingeschrieben, sie herauszuarbeiten ist Teil seines interpretatorischen Ansatzes.

So ist die gleichsam psychoanalytische Ausschärfung der Musik ein großer Gewinn, weil ihr Reichtum und ihre Komplexität unmittelbar präsent werden und ihre Modernität offenbaren. Wie jedes großes musikalische Kunstwerk, so ist auch Schuberts Musik nicht auszuhören und offen für ganz unterschiedliche interpretatorische Ansätze. Nur zu schön darf man ihn nicht spielen, wie es kürzlich noch Krystian Zimmermann tat: perfekt und mit einem frohgemuten Grundton, aber unbesorgt um all die Ängste und Todtraurigkeiten, der Schatten, Gespenster und Rätselhaftigkeiten, die Lonquich in seiner Einspielung aufspürt.

Als gewichtige "Zugabe" offeriert Lonquich auf dieser Doppel-CD noch die drei späten Klavierstücke D. 946 in einer vergleichbar herausfordend faszinierenden Deutung. Wie immer man zu Lonquichs Schubert-Exegesen bei den drei Sonaten oder den Klavierstücken stehen mag: Willkürlich gegen den Strich gebürstet und anders um der vermeintlichen "Neuheit" wegen sind sie nicht. Diese Aufnahmen sind in sich stimmig, anregend und bewegend. Ein echter Gewinn.



Georg Henkel

Trackliste

CD I
01-04 Sonata No. 19 in C minor, D.958
I. Allegro 11:36
II. Adagio 8:03
III. Menuetto. Allegro 3:46
IV. Allegro 9:51

05-08 Sonata No. 20 in A Major, D.959
I. Allegro 17:50
II. Andantino 8:24
III. Scherzo. Allegro Vivace 5:21
IV. Rondo. Allegretto 12:45

CD II
01-04 Sonata No. 21 in B flat Major, D.960
I. Molto Moderato 23:49
II. Andante sostenuto 10:59
III. Scherzo. Allegro Vivace Con Delicatezza 4:02
IV. Allegro, ma non troppo 9:11

05-07 3 Klavierstücke, D.946
I. Allegro assai 9:27
II. Allegretto 14:04
III. Allegro 5:24

Besetzung

Alexander Lonquich, Klavier
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