Musik an sich


Reviews
Cambrai, P. de (Schmelzer)

Ossuaires. Officium für Elisabeth von Ungarn


Info
Musikrichtung: Mittelalter Vokal

VÖ: 01.11.2012

(Glossa / Note 1 / CD / DDD / 2011 / Best. Nr. GCD P32107)

Gesamtspielzeit: 64:17



FREMDE SCHÖNHEIT

Mir scheint, dass Björn Schmelzer und Graindelavoix mit jeder neuen Aufnahme noch ein bisschen radikaler und tiefer in die sogenannte Alte Musik – in diesem Fall die des Hochmittelalters – hineinhorchen und zu wirklich unerhörten Ergebnissen kommen. Das liegt vor allem daran, dass die Musik bei ihnen aus dem Klang entsteht wird und nicht aus fertigen Konzepten.

Ossuaires ist der erste Teil eines geplanten Triptychons, bei dem sich das Ensemble von einem mittelalterlichen Skizzenbuch aus dem 13. Jahrhundert hat inspirieren lassen. Die baumeisterlichen Zeichnungen von Kirchen-Grundrissen, Fensterrosetten und Skulpturenschmuck stammen von einem gewissen Villard de Honnecourt. Die Zeichnungen dienten ihm offenbar als Musterbuch und Gedächtnishilfe. Denn die Gewölbe, Türme und Verzierungen einer mittelalterliche Kathedrale seien weniger einem vollendeten Generalplan entsprungen, sondern aus der immensen praktischen Erfahrung und Intuition der Erbauer in einem langen Prozess erwachsen. So, wie de Honnecourt geeignete Formenteile sammelte, aus denen er bei Bedarf auswählen konnte, um ein anderes Bauwerk zu bereichern, so hat nach Schmelzers Ansicht auch ein mittelalterlicher Musiker bei Bedarf improvisiert oder komponierte Musik in die Aufführung eines neuen Stückes integriert.

Wie man sich dies praktisch vorzustellen hat, führt Graindelavoix anhand ausgewählter Antiphonen und Responsorien von Pierre de Cambrai vor, die dieser zu Ehren der Heiligen Elisabeth von Ungarn komponiert hat. Die einstimmige Melodie wird durch verschiedene Zusätze angereichert und auf ein gleichsam sinfonisches Maß erweitert. Das betrifft nicht nur die Anreicherung mit zusätzlichen Stimmen, sondern auch die Dauer.
Bei einem Stück wie dem 5. Responsorium Ante Dies exitus werden von Graindelavoix zum einen üppigste melismatische und mikrotonale Verzierungen sowie gravitätische Bordun-Unterstimmen nach bestimmten Regeln improvisiert. Ziel ist es, die Zwischenräume zwischen den fest notieren Noten kunstvoll und farbig zu füllen und einzelne Worte durch Umspielungen hervorzuheben. Zum anderen werden große Teile aus dem vierstimmigen Notre-Dame-Organum Viderunt omnes eingefügt, die ein gewisser Magister Perotinus Ende des 12. Jhd. in Paris ursprünglich auf einen ganz anderen Text komponiert hatte. Auch dabei werden verschiedene Ornamente angebracht und die Oberstimme betont. Die individuellen Timbres der Stimmen finden bei der Aufführung wie spontan zusammen, singen und spielen sich gleichsam die Einfälle zu. Nicht Notentreue und Homogenität, sondern ein reiches, changierendes Klangbild ist das Ziel. Die Gesangslinien werden mit den Möglichkeiten der Stimme ‚orchestriert‘. Das klingt unreiner und auf gewisse Weise orientalischer als üblich. So entsteht ein schimmerndes Gewebe, in das farbige ‚Stimmfäden‘ aus unterschiedlichen ‚Materialien‘ eingewoben sind. Und da auch die rhythmische und metrische Ausführung der gotischen Quadratnoten offenbar weder fix noch beliebig war, sondern, wie Schmelzer es nennt, anexakt, d. h. abhängig vom musikalischen und textlichen Zusammenhang, strömt die Musik mehr wie ein mäandernder Flusslauf, als dass sie im Gleichmaß pulsiert.

Schmelzer stellt seine Überlegungen im Booklet sehr überzeugend dar. Souverän und mit profunder Quellenkenntnis, nicht zuletzt aber mit großem Einfühlungsvermögen in eine versunkene Epoche, lässt er in seinem Beitrag die mittelalterliche Lebens-, Kunst- und Musikwelt als lebendigen Organismus wiedererstehen. Für sich genommen wäre das allerdings nur bemerkenswert. Großartig aber ist es, wie es den Interpreten gelingt, diese Thesen auf bezwingende Weise in Musik zu verwandeln. Das Ergebnis ist ein so noch nicht gehörter Reichtum an Tonformen und Klangfarben, von melodischen und harmonischen Entwicklungen. Durch die archaisch-gutturale Färbung mancher Stimmen, die resonanzreichen, körperlichen Klänge und die ekstatische Inbrunst, mit der teilweise gesungen wird, ist die Musik von erhabener und zugleich fremder Schönheit. Schmelzers Ideal scheint zu sein, in der Musik die sinnenbetörende, visionäre Kunstwelt einer gotischen Kathedrale wieder zu spiegeln. Eine Kathedrale, die ursprünglich mehr ein komplexer Sakralorganismus und Erlebnisraum denn eine grandiose Architekturkonstruktion gewesen ist. Es ist gewiss einiges an Spekulation im Spiel (im Grunde aber auch nicht mehr als bei konventionelleren Darbietungen, die weniger riskieren und näher am Notentext bleiben). Doch der Geist der alten Musikpraxis scheint mir auf jeden Fall perfekt getroffen und für heutige Ohren so raffiniert umgesetzt, dass man Neue Musik zu hören glaubt!



Georg Henkel



Trackliste
1Antifona I (Vesperae I). Gaudeat Hungaria
2 Responsorium II (Nocturnus II). Sub Conrado Dei viro
3 Responsorium V (Nocturnus II). Ante Dies exitus
4 Responsorium VI (Nocturnus II). Cui nec apex
5 Responsorium IX (Nocturnus II). Tante signa glorie
6 Un chant renvoisie / Decantatur
7 Anonymous: Volek syrolm thudothlon
Besetzung

Olalla Alemán, Patrizia Hardt, Eurudike De Beul, Silvie Moors, Katrien Tibau: Gesang

Marius Peterson, Yves Van Handenhove, Paul De Troyer, Lieven Gouwy, Björn Schmelzer, Thomas Vanlede, Tomàs Maxé, Antoni Fajardo, Mark Makelberge: Gesang

Thomas Baeté: Fiedel

Björn Schmelzer: Leitung



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