Musik an sich


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Bingen, H. v. (Popp)

Inspiration. Lieder und Visionen


Info
Musikrichtung: Mittelatler Ensemble

VÖ: 16.11.2012

(Berlin Classis / Edel Kultur / CD / DDD / 2012 / Best. Nr. 0300425BC)

Gesamtspielzeit: 57:47



MYSTISCHER HALL UND SCHALL

Anfang Oktober 2012 wurde die bekannte mittelalterliche Ordensfrau und Mystikerin Hildegard von Bingen vom Papst in den Rang einer Kirchenlehrerin erhoben. Dieses „Gremium“ umfasst damit ausgewählte 35 katholische Heilige von den Anfängen des Christentums bis in die neuere Zeit, darunter vier Frauen. Eine davon ist nun die Benediktinerin Hildegard, die nicht nur ein umfangreiches mystisches, natur- und heilkundliches Werk hinterlassen hat, sondern auch zahlreiche Musikstücke komponierte – oder komponieren ließ.
Für ihren Nachruhm spielt das keine Rolle, denn die ungewöhnlichen Stücke erfreuen sich schon seit langem großer Beliebtheit. Ungewöhnlich sind sie wegen ihrer Emphase, ihres relativ großen, ‚himmelstürmenden‘ Tonumfangs und der herrlich schwingenden Melodien, die auch heutige Hörer in ozeanische Ekstase versetzen können. Die genaue Aufführungspraxis liegt im Dunkeln. Instrumente waren vielleicht beteiligt, dürften aber wohl eher der Klanggrundierung gedient haben. Die einstimmig notierten Stücke boten sich auch für eine improvisierte mehrstimmige Fassung mit einfachen Oktav- und Quintparallelen an.

Von all diesen Möglichkeiten machen die vier Damen von VocaMe Gebrauch. Die Leitung hat Michael Popp, der auch die diversen mittelalterlichen und exotischen Instrumente spielt: Fidel, Harfe, Monochord, Glocken, dazu indische Santur und das Streichinstrument Dilruba, die Stachelfiedel Iklig und die Laute Oud. Hinzu kommt noch Ernst Schwindl an der Drehleier. Popp knüpft mit diesem reichen, manchmal an moderne Arrangements erinnernden Begleitklang und der umfänglichen mehrstimmigen Ausarbeitung der Gesänge frühere Experimente an, mit denen er versuchte, die Musik Hildegards in die heutige Zeit zu projizieren. Im Ganzen geht es um einiges freier und farbiger zu als z. B. bei den vergleichsweise strengen Lesarten des Ensemble Sequentia, das im Laufe der Jahre sämtliche Stücke Hildegards aufgenommen hat.

Die schwerelosen und hingebungsvollen Stimmen von Sigrid Hausen, Sarah M. Newman, Petra Noskaiová und Gerlinde Sämann haben mehr ‚Körper‘ als die schlanken, schlackenloseren Stimmen des Sequentia-Ensembles. Diese Wirkung mag sich auch an der fast schon übergroßen Akustik der kirchlichen Aufnahmeorte verdanken. Die Musik klingt voll und reif, manchmal regelrecht monumental, ein obertonreicher Rausch, bei dem die Klangwellen von mystischem Hall und instrumentalem Schall getragen werden. Das kann man mögen oder auch nicht. Besonders da, wo durch die Instrumentalbegleitung die harmonischen Effekte in den Vordergrund treten, ist die Wirkung etwas plakativ ‚mittelalterlich‘ und ‚mystisch‘. Der starken suggestiven Wirkung und seelenberührenden Kraft der Musik Hildegards wird man sich trotzdem nicht entziehen können.



Georg Henkel



Besetzung

VocaMe

Ernst Schwindl: Drehleier

Michael Popp: Leitung und Instrumente




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