Musik an sich


 
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Christoph Willibald Gluck: Italienische Arien
(Decca/Universal)
Barock

 

Mit einem gewaltigen Werbefeldzug positioniert Decca ihr Zugpferd Cecilia Bartoli im Zentrum des erschöpften Klassikmarktes: "Entdecken Sie die wundervollen Melodien Christoph Willibald Glucks" tönt es aus den Medien. Als wenn es die Sängerin und der Komponist nötig hätten, noch bekannter gemacht zu werden, als sie ohnehin schon sind. Und ob sich der Rest der unbekehrbaren Klassikverächter durch Cecilias mild-kokettes Cover-Lächeln und das Versprechen von "schönen Melodien" ködern läßt?

Die Interpreten garantieren immerhin knapp 70 Minuten spannende Entdeckungen aus dem Schaffen Glucks, der ja, bevor er seinen späteren Ruhm mit sogenannten Reformopern errang, seine Brötchen mit konventionellen Opern im Stil der barocken Opera Seria verdiente. Vor dem berühmten Spätwerk - das allerdings immer noch sehr barock daherkommt - sind diese Werke weitgehend in Vergessenheit geraten.

Bei der Opera Seria handelt es sich in der Hauptsache um ein durch Rezitative verbundenes Arienkonzert; weil es sich hier um stereotype Situtationen und Charaktere handelt, in der die Personen von einer bestimmten Leidenschaft vollkommen beherrscht werden, bedeutet der fehlende dramatische Zusammenhang bei den ausgewählten Stücken kein Problem: Es genügt, sich einfach auf die jeweiligen Affekte einzulassen. Acht Arien und Szenen aus dem "Frühwerk", sechs davon in Ersteinspielung, erfahren dabei eine höchst überzeugende Wiederbelebung.

Die Bartoli und die Akademie für Alte Musik Berlin tun alles, um die hier gehobenen musikalischen Perlen zum Leuchten zu bringen. Und an dieser Stelle soll das erste Lob einmal der "Begleitung" gelten. Was das 1982 noch in der damaligen DDR gegründete Ensemble hier an farbigen, nuancierten, dabei hochvirtuosen und spannungsgeladenen Spiel vorlegt, ist einfach fabelhaft. Nach Marc Minkowskis jüngst veröffentlichter "Iphigénie en Tauride" ist es auch hier die historisch informierte Aufführungspraxis, die Gluck als Ausdrucksmusiker wiederentdeckt. Vom späteren, manchmal bemühten Reduktionismus des Komponisten ist hier noch nichts zu spüren. Reizvoll "barock" klingen z. B. zwei Stücke aus der Oper "La Clemenza di Tito" von 1752 (ja genau, Mozart hat sich das Libretto auch noch einmal vorgenommen!), auf die Gluck 1779 noch einmal zurückgriff, um sie in entschlackter Form in seine Reformoper "Iphigénie" zu transplantieren.

Das tempramentvolle Spiel der Akademie korrespondiert mit der ungebremsten Expressivität der Sängerin. Hier gehen die Meinungen naturgemäß auseinander: Bartolis Stimme ist technisch perfekt durchgebildet, schwindelerregend koloraturgewand und innerhalb ihrer Grenzen sehr ausdrucksstark. Doch eben der unbedingte Ausdruckswille mit seinen Seufzern, Bebungen und Schärfen in der Tongebung scheint mitunter auch forciert. Schon in ihrem Vivaldi-Album konnte diese Dauerregung mitunter enervierend wirken, vor allem dann, wenn der Umfang der Partie die Möglichkeiten von Bartolis Mezzo-Sopran überstieg. Andererseits: Einer Musik, die bei aller Künstlichkeit eben doch wahre Leidenschaften und extreme Empfindungen bis zu Raserei und Wahnsinn transportiert, entspricht Bartolis interpretatorischer Ansatz kongenial. Zumal Glucks Orchestersatz wesentlich breiter und kraftvoller daherkommt als Vivaldis doch eher filigrane Musik. Das schafft das notwendige Fundament und Gegengewicht zu Cecilia Bartolis Eruptionen. Die haben es allerdings in sich: Gleich viermal darf sie sich entweder in Eifersucht, Rachsucht oder Wahnsinn hineinsteigern. Wobei Gluck hier häufig aprubte Affektwechsel bevorzugt. Bartoli und ihre Mitstreiter gestaltet diese Wechsel wie den Zusammenprall von Feuer und Eis. Kaum weniger eindringlich geraten die ruhigen Stücke, in der sich die Sängerin sehr wohl zurücknehmen kann. In den Accompagnati, die den Arien teilweise vorausgehenden, zeigen alle Beteiligten ein seismographisches Gespür für Glucks subtile Texdeutungen. Wie hier mit feinsten dynamischen Abstufungen, sorgfältiger Artikulation und farbiger Continuo-Instrumentierung auf kleinstem Raum "Musikdrama" gemacht wird, ist wirklich hörenswert.

Fazit: Bartoli-Fans werden nicht darüber nachdenken und zugreifen, Gluck-Fans können den Meister aus einer neuen Perspektive entdecken, Barock-Fans dürfen sich genussvoll am hemmungslosen Leiden und Rasen von Vitellia, Fulvia, Sesto oder Berenice weiden. Wer sich freilich von "schönen Melodien" einlullen lassen will, rate ich: lieber die neue CD von Kylie Minogue oder so kaufen.

PS: Wie schon das Vivaldi-Recital wird diese CD in einer aufwendigen Verpackung in Buchform mit vielen historischen Abbildungen angeboten. Der Nachteil dieser Präsentation: Die CD steckt in einem Kuvert, Kratzer sind also vorprogrammiert. Beim gediegenen Layout hat man versucht, die Atmosphäre des späten 18. Jahrhunderts zu beschwören. Ob der künstliche Gilb am Schnitt aber dafür unbedingt notwendig war? Der Begleittext ist allerdings ausführlich und informativ.

Repertoirewert: 5
Klang: 5
Interpreation: 5
Präsentation: 4

19 von 20 Punkte

Georg Henkel
 

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