Mitja V: Das Gewandhausorchester rahmt Schostakowitsch ungarisch




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 01.10.2020

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Nach ursprünglicher Planung hätte in diesem von Vasily Petrenko geleiteten Grossen Concert ein rein russisches Programm erklingen sollen – Sergej Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert mit Anna Vinnitskaya am Klavier und dann Dmitri Schostakowitschs 12. Sinfonie. Aber beides sind Werke, die eine Musikerzahl erfordern, welche unter den aktuellen Abstandsregeln auf der Bühne des Großen Gewandhaussaals schlicht nicht unterzubringen ist. Also hieß es auch hier umdisponieren, und aus dem rein russischen Programm wurde ein gemischt ungarisch-russisches, wobei die beiden ungarischen Werke das russische sozusagen rahmen. Für letzteres blieb Schostakowitsch erste Wahl, und so bildet dieses Konzert abermals den Auftakt für eine ungewöhnliche Mitja-Reihe des Rezensenten, nunmehr mit dreimal Schostakowitsch in reichlich drei Wochen und damit einem Abend weniger als anno 2017 mit Mitja I, II, III und IV.

Zoltán Kodálys „Tänze aus Galánta“ reizen die Bühnenkapazität bereits nahezu aus. Galánta ist ein kleiner Ort an der Bahnstrecke zwischen Wien und Budapest, wo der Komponist sieben Jahre seiner Kindheit verbrachte und seine erste musikalische Prägung durch eine (O-Ton Kodály) Zigeunerkapelle erfuhr. Das Werk war eine Auftragskomposition zum 80jährigen Jubiläum der Philharmonischen Gesellschaft Budapest, und im Gegensatz etwa zu den bekannten Ungarischen Tänzen von Johannes Brahms ist es keine Suite aus Einzelsätzen, sondern ein kompaktes viertelstündiges Werk mit einer ausgeprägten Binnendynamik. Der folgt Petrenko geschickt, indem er die Einleitung sehr weit zurücknimmt, quasi eine Elegie formt, die so gar keinen tänzerischen Charakter besitzt (so laaaangsaaaam zu tanzen ist immens schwer), sondern u.a. von melancholischen Klarinetteneinwürfen lebt. Selbst wenn mehr Musiker beteiligt sind und Petrenko sich in eine große Windmühle verwandelt, bleibt das geformte Ergebnis lange schwerblütig, aber an Motivübergängen weisen bestimmte Zäsurgestaltungen darauf hin, dass das nicht so bleiben wird, wenngleich auch der erste Paukenausbruch noch düster bleibt. Aber dann darf Petrenko die Handbremse lösen, und das tut er ebensogern wie die Musiker. Flockige Pizzikati und muntere Flöten sorgen für Lebendigkeit, bald steuert die Triangel erste Offbeats bei, und auch die dazwischenliegenden Klanglandschaften nehmen cineastische Weite an. Da klingelt mal ein Schlitten vorbei, der Groove kommt nicht selten aus den Pizzikato-Celli, und die Tanzmotive geben sich munter die Klinke in die Hand, so dass das Stück zwar kaum zur praktischen Durchtanzung geeignet ist, aber dafür den Hörer rein audioseitig bei der Stange hält. Eine wilde Jagd führt das Gewandhausorchester in halsbrecherische Breaks, denen das Orchester aber mit heiler Haut entkommt, und nur ein Problem bleibt ungelöst: Am Übergang ins retardierende Element, wo ein butterweiches Horn im Alleingang agiert, blättern alle anderen kollektiv um – und dieses Geräusch stellt das Horn weitgehend ins Abseits. Zum Trost gibt es bald wieder reichlich Feuerwassser, Petrenko verdient sich ein Lob für sein gekonntes Dynamikmanagement und agiert auf dem Pult nach wie vor äußerst beweglich, die letzte Verharrung atmet viel Spannung, und die Finalenergie paßt auch.

Bei den Umbauten des letzten Sommers ist auch neue Hebebühnentechnik eingebaut worden, und die neue erlebt der Rezensent an diesem Abend zum ersten Mal im Einsatz und stellt fest, dass sie viel geräuschintensiver arbeitet als die alte – aber vielleicht wirkt das auch nur so aufgrund des im letzten Review beschriebenen veränderten Bühnensounds oder des nur zu einem Drittel gefüllten Saales, wobei allerdings erstaunlich viele verkaufbare Plätze leer geblieben sind. Dabei ist Dmitri Schostakowitschs 2. Konzert für Klavier und Orchester F-Dur op. 102 eigentlich ein zugängliches Bravourstück, das der Komponist anno 1957 für das Klavierexamen seines Sohnes Maxim schrieb. Anna Vinnitskaya wiederum kennt die russische Klaviertradition schon aus Kindertagen, und somit ist auf eine erstklassige Interpretation zu hoffen, was sich – um es vorwegzunehmen – auch erfüllt. Gute Vorzeichen bietet schon die Einleitung des eröffnenden Allegro, denn dort findet die Pianistin mit den witzigen Holzbläsern sofort eine gemeinsame Sprache, und Petrenko braucht auch keine Anlaufzeit, um den Orchesterklang so zu dosieren, dass man das Soloklavier auch noch im Tutti gut durchhört, und das, obwohl ein Flügel zum Einsatz kommt, der einen relativ warmen, aber nicht gar zu durchdringenden Ton erzeugt. Das paßt zumindest an diesem Abend aber erstaunlich gut, und nur wenn auch Blechfanfaren ins Tutti eindringen, gerät die Solistin ein Stück zu weit ins klangliche Abseits. Dafür entschädigen aber viele gelungene Momente, Vinnitskaya kriecht in diversen Hochgeschwindigkeitspassagen förmlich ins Instrument hinein (ein Interessanter Kontrast zu diversen Kollegen, die genau das eher in den weit zurückgenommenen Passagen tun), der Groove ist nötigenfalls auch da, und im enorm lebendigen, witzigen Finale laufen alle Beteiligten nochmal zu Höchstform auf.
Das Andante bekommt eine wunderbare Ruhe aus den Streichern mitgeliefert, aber die Solistin wischt etwaige Anflüge von Düsternis einfach weg und schreitet auf einem Pianissimo-Hornteppich anmutig dahin. Ein einziger ultratiefer Ton leitet einen hochemotionalen Ausklang dieses viel zu kurzen Satzes ein, an dem das abschließende Allegro attacca anhängt. Die Kontrastwirkung gelingt auch ohne gar zu wildes Gehämmer, der Komponist schickt die Solistin auf einen munteren Ritt durch den Quintenzirkel, die Dialoge mit der Hornfraktion sind diesmal anders geartet, gelingen aber auch exzellent, und auch die Körperarbeit der Solistin ist interessant – sie groovt selbst dann mit, wenn sie selbst nicht zu spielen hat. Petrenko gelingt die Transparenzgestaltung auch in diesem Satz bis zum Schluß vorbildlich, und die ersten Bravorufe lassen dementsprechend auch nicht lange auf sich warten. Die in einem eigentümlichen Ton-in-Ton-Prinzip gekleidete Solistin (das Kleid hat die gleiche dunkel kastanienbraune Farbe wie ihr Haar) hatte am Vorabend einen Ravel-Walzer zugegeben, an diesem Abend ist’s auch ein Walzer, aber sie bleibt bei Schostakowitsch: Der Lyrische Walzer aus den Puppentänzen kommt flockig von der Bühne geperlt, ist harmonisch wie temposeitig durchaus variabel und macht mit dem harmlosen Schluß klar, dass Schein und Sein nicht zwingend übereinstimmen müssen – ein Motiv, das man bei Schostakowitsch oft findet, auch wenn sein typischer doppelter Boden gerade im 2. Klavierkonzert nur eher schwach ausgeprägt ist.

Die nun folgende Pause übersteigt die Dauer einer normalen Konzertpause deutlich, denn die Bühne wird komplett umgebaut: Béla Bartók verlangt für seine Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta Sz 106 eine weitgehend symmetrische Anordnung der Musiker mit einer gedachten zentralen Symmetrieachse vom Dirigentenpult nach hinten – an dieser Achse werden auch die beiden Klaviere angeordnet, und nur die hintere Reihe weicht von diesem Prinzip ab, da es von der Celesta und auch von den verschiedenen Schlagwerkgruppen nur jeweils eine gibt, und die werden dann an der Bühnenrückwand aufgereiht, wobei der Celesta-Spieler von dieser gelegentlich ans zweite Klavier wechselt. Leider lohnt sich der ganze Aufwand nur bedingt, da das eröffnende Andante tranquillo titelgemäß eher einschläfernd wirkt: Die Fugenkonstruktion erzeugt eine nette Stimmung und ist dynamisch abwechslungsreich geschichtet, aber so langweilig wie die berüchtigte Passacaglia in Brahms’ 4. Sinfonie, dazu quälend unironisch. Vielleicht hat der Komponist das selbst geahnt, denn er plaziert mitten hinein einen einzelnen Ausbruch von Pauke und Großer Trommel, der den in Morpheus’ Armen gelandeten Hörer wieder weckt, bevor alles wieder mit gewohnter Langeweile weitergeht. Da können selbst Spitzenkräfte – und sowohl Petrenko als auch das Gewandhausorchester zählen unstreitig zu diesen – nichts Entscheidendes mehr herausholen, aber sie wissen zumindest, wo noch was geht: Die Celesta trägt im Finale dieses Satzes ätherische Klänge bei, die zur Spannungserzeugung hochgradig dienlich sind. Dass dann ein knisterndes Bonbonpapier im Saal reicht, um die Spannung in sich zusammenfallen zu lassen, dafür können die Bühnenaktiven ja nichts.
Vielleicht passiert im Allegro mehr? Jein. Man freut sich über diverse klasse doppelchörige Effekte, aber hier wirkt sich das gemeinsame Blättern bisweilen ganz besonders störend aus, und auch die Pizzikati aus den Celli entfalten längst nicht so starke Wirkungen wie im Kodály-Stück. Auch in diesem Satz gefällt der wild hin und her wogende Schluß, von Petrenko geschickt geformt, am besten.
Das Adagio ist in der sogenannten Brückenform aufgebaut, also so ähnlich wie Olivier Messiaens berühmtes Orgelstück „Die Erscheinung der heiligen Kirche“. Da hört man einleitend, was Bartók auf dem Areal düsterer Klänge hervorbringen kann: ferne Entrücktheit, durch ein Xylophon unterstützt, dazu eigentümliche Glissandi aus den Pauken und flirrende Flageoletts aus den Strecihern, die wie ein ferner Insektenschwarm klingen – die gelungene Vorlage verarbeiten Petrenko und das Gewandhausorchester in gekonnter Manier, und die jenseitige Celesta setzt dem Ganzen wieder mal die Krone auf. Aber auch hier verflacht das Geschehen, und wo man bei Messiaen mit offenem Mund dasitzt und der entschwindenden Kirche nachsieht, steht bei Bartók der Mund gähnbedingt offen. Nur die Reprise der Satzeinleitung läßt wieder aufhorchen.
Der Allegro-Molto-Schlußsatz ist derjenige mit der größten Affinität zu volksmusikalischen Themen, für deren Auf- und Verarbeitung der Komponist ja bekannt war. Auch in diesem Sektor gehört das Werk freilich nicht zu seinen Sternstunden: Obwohl sich Petrenko und die Musiker wirklich alle Mühe geben und sich einige gute Ideen finden, gerät das Ganze doch wenig mitreißend und nicht selten auch zu kleinteilig, so dass die Ideen nicht genug Platz zur Entfaltung bekommen. Man horcht immer dann auf, wenn ein Gedanke mal länger durchgearbeitet wird, zumal der Dirigent viel Energie hervorzaubern läßt und auch vor der großen Elegie noch beweist, dass er „Massenszenen“ gestalten kann. Aber in der Gesamtbetrachtung passiert auch in diesem Satz zu wenig Aufhorchenswertes, selbst das Solocello bleibt erstaunlich unemotional, und so fällt die Aufgabe, wenigstens ein paar Kastanien aus dem Feuer zu holen, mal wieder der Celesta zu, die sie auch gern erfüllt. Nach dem kurzen Bombastschluß folgt eher verwirrt anmutender Applaus, in der Intensität eher mäßig, aber doch recht ausdauernd, so dass es für das Empfinden des Rezensenten mal wieder einen Vorhang zuviel gibt – richtige Begeisterung klingt jedenfalls anders. In der Gesamtbetrachtung natürlich trotzdem ein hochinteressantes Konzert, wenngleich die lohnenden Aspekte überwiegend in der ersten Hälfte lagerten.


Roland Ludwig



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