Musik an sich


Reviews
Nono, L. (Diverse)

A Pierre u. a.


Info
Musikrichtung: Neue Musik Ensemble

VÖ: 15.09.2012

(Neos / Codaex / SACD hybrid / 2010 / Best. Nr. Neos 11122)

Gesamtspielzeit: 54:28



HÖRTRAGÖDIEN

Einen Querschnitt durch das kammermusikalische Spätwerk von Luigi Nono bietet dieses Album mit vier Kompositionen des Italieners, drei davon Widmungsstücke an andere Kollegen: Pierre Boulez, György Kurtag und Luigi Dallapiccola.
Seit den späten 1970er Jahren bis zu seinem Tod 1990 war Nono auf der Suche nach einem neuen Klang, einer neuen Ästhetik des Materials und des Hörens, das dabei bis an seine physiologischen Grenzen geführt wurde, z. B. durch eine extrem leise Dynamik und die äußerste Fragilität und Subtilität der Musik. Das Experimentalstudio des SWR bot Nono die Möglichkeit elektronische, instrumentale und vokale Klänge gleichsam unter dem Mikroskop zu untersuchen und in den Raum zurück zu projizieren. Klänge konnten im Moment ihres Entstehens – beim Ansetzen des Bogens, beim Anblasen, beim Einatmen – hörbar gemacht werden. Eine ganz neue, fremdartig-schöne Welt tat sich auf.
Nonos späte Werke sind sinnlich-spröde Expeditionen in das Innere des Tons und des Klangkörpers. Ein großes Orchester ist dafür nicht nötig, denn schon kleinste Bewegungen der Klangsubstanz werden zum Ereignis. Dabei ist es die oft unmerkliche Mischung von realen und live-elektronischen Klängen, die den späten Stücken Nonos ihre unverwechselbare Aura verleiht.

...sofferte onde serene ... ist 1976 ein erster Schritt in diese Richtung gewesen: Ein Spiel mit den Resonanzräumen des Klaviers, zu dem diskret eine weitere Resonanzschicht mit voraufgenommenen Pianoklängen vom Tonband eingespielt wird. Nono verweist auf die Inspirationsquelle: Venedig, die Lagunenstadt mit ihrem morbiden Charme und dem Klang seiner vielen Kirchenglocken. Die Musik besteht aus Schattenklängen, die aus dichten Akkordballungen und undefinierbaren tieffrequenten Klängen aus dem Korpus des Flügels gebildet werden. Man kann dabei an ein verzerrtes Glockenkonzert oder auch das diffuse Licht der Lagunenstadt denken. Die Klänge verdichten sich allerdings zu mitunter furchterregender Gewalt, dann scheint das Instrument geradezu zu explodieren. Unterstützt durch die hervorragende Aufnahmetechnik bietet Markus Hinterhäuser eine ungemein plastische Version des Werkes.
Die späten Stücke Nonos zeichnen sich durch einen aus vielen Klangsplittern und –inseln zusammengesetzten fragmentarischen Charakter aus. Con Luigi Dallapiccola für sechs Perkussionisten und Live-Elektronik (1979) ist ein weiteres Werk des Übergangs. Von wenigen sehr markanten Momenten abgesehen bezieht es seinen Reiz ebenfalls aus den ausgesprochen feinen Schattierungen zwischen Klang und Geräusch und Stille, die die Mitglieder von Les Percussions de Strasbourg ihrem komplexen Instrumentarium entlocken.
Eine Resonanzstudie ist auch A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum für Flöte und Kontrabassklarinette sowie Live-Elektronik aus dem Jahr 1985. Beide Instrumente verschmelzen zu einem Klangorganismus, der quasi aus dem Nichts erscheint und schließlich wieder darin eintaucht. Man könnte sagen, dass die Stille für einen Moment in eine fast schon orchestrale Textur gerinnt, bevor sie sich wieder auflöst. Wie auch bei den anderen Werken zeichnet sich auch A Pierre durch ein raffiniertes Spiel mit Obertönen aus. Es gibt Echos und Echos von Echos und manchmal massive, regelrecht perkussive Klänge, aggressives Röhren oder Reibelaute, die an aneinanderstoßende Stahlplatten und große Maschinen denken lassen. Auf jeden Fall eine Welt unter der Erdoberfläche. Eine Hades-Vision?
Die umfangreichste Komposition ist die Omaggio a György Kurtag, ein Werk, das ursprünglich als gelenkte Improvisation begann, bevor Nono es in einer Partitur fixierte. Im Raum bewegen sich die gleichsam denaturalisierten Klänge einer Contraaltistin sowie von Flöte, Klarinette und Tuba und finden sich dabei immer wieder zu unerhört schönen Verbindungen zusammen. Die Zartheit, mit der selbst die Klänge der Tuba hier behandelt werden, sorgt für eine ganz eigene Poesie, ja Magie.

Dabei sind alle Stücke auf dieser Platte sind mehr als bloß interessante Materialstudien. Es sind bei aller Abstraktion ausdrucksstarke und sublime Kunstwerke, in denen aufklingt, was Nono als eine „Tragödie des Hörens“ bezeichnet hat (so der Untertitel seiner späten Oper Prometeo). Und so spürt man in seiner Musik immer wieder ein echtes, tief empfundenes Pathos. Die Dringlichkeit und Konzentration, mit der die technisch ungemein versierten Interpreten hier zu Werke gehen, wird dem Rang dieser Musik in jeder Hinsicht gerecht.



Georg Henkel



Trackliste
A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum 9:25
...sofferte onde serene ... 14:14
Omaggio a György Kurtag 17:56
Con Luigi Dallapiccola 12:53
Besetzung

Susanne Otto: Contraaltistin
Roberto Fabbriciani: Flöte
Ernesto Molinari: Klarinetten
Klaus Burger: Tuba
Markus Hinterhäuser: Klavier
Les Percussions de Strasbourg

Detlef Heusinger: Leitung (Omaggio)



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