Musik an sich


Reviews
Stockhausen, K. (Hillier)

Stimmung (1968). Kopenhagener Version (2006)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Vokal

VÖ: 14.09.2007

harmonia mundi / harmonia mundi
SACD hybrid (AD 2006) / Best. Nr. HMU 807408


Gesamtspielzeit: 78:00



MADRIGALE VOM SIRIUS

Ist das Humor? Und wenn ja – was für einer? „nimm Dich in acht eh du erwacht hat Dich mein Männlein zum fließen gebracht.“ So dichtet der hierzulande wohl bekannteste und zugleich – was seine Musik angeht – unbekannteste Komponist Neuer Musik, Karlheinz Stockhausen (Jg. 1928), in seinem Werk Stimmungen. Die Komposition aus dem Jahr 1968 für sechs Vokalisten, Mikrophone, Mischpult und Techniker ist durchsetzt mit erotischer Lyrik des Komponisten, die, ernst genommen, einfach nur peinlich ist: „Mein Hahn ist meine Seele …“ und „Meine Hände sind zwei Glocken binge bung auf Deinen Brüsten bringe brange bring brang …“ oder „Der weiße Gott, aus dessen Spucke alles wächst, steigt Puls auf Pulsschlag höher in mir auf bis ich anschlage …“
Ist das pubertär aufgeladener Neo-Dada? Schuster, bleib bei deinen Leisten!
Im gleichen Werk haben die Interpreten gegebenenfalls noch rund 60 „magische Namen“ von allerlei Gottheiten zu intonieren. Und Wochentage – auf Englisch oder Deutsch. Oder Halleluja-Rufe. Oder den muslimischen Friedengruß „Salamaleikum“, der allerdings beim Vortrag schrittweise zum Wort „Salami“ mutiert und mit einer aufmunternden „Come on“-Kadenz beantwortet wird. Klingt mehr nach Konkreter Poesie, die damals auch gerade in Mode war.
Also: Angesichts dieser Wortverschlingungen muss Stockhausen zumindest Sinn für Nonsens haben. Angesichts seines prophetischen Auftretens und der esoterischen und panreligiösen Tendenzen in seinem Werk fällt es nur nicht leicht, das glauben.

Abgesehen davon besteht „Stimmungen“ zum allergrößten Teil aus unsemantischen Phonemen und Lautäußerungen in Form von Silben, die meist psalmodierend auf den Tönen eines Obertonkomplexes (über dem tiefen B) gesungen werden. Wohlklingendes Geplapper nach dem Schema aeoaeoaeoaeo, maoauoauoau und teioumaeioma oder schallalalala‚ weaoaweaoae usw., gewürzt mit kehligen oder guturalen Lauten oder tonlosem Pfeifen. Stockhausen hat schier endlose Möglichkeiten ausgetüftelt. Organisiert sind diese in 51 Modulen, die bezüglich Tonhöhe, Artikulation, Dynamik und Rhythmus mehr oder weniger genau ausgearbeitet sind, so dass es Raum für spontane Kombinationen und Improvisationen gibt. In diesen ununterbrochenen vokalen Laut- bzw. Klangstrom sind die erkennbaren Texte, Worte oder Wort-Fragmente locker eingewoben, wachsen manchmal daraus hervor oder verschwinden wieder darin.
Wesentlich ist der gezielte Einsatz von Obertönen, die das einfache harmonische Grundgerüst zu ungeahnter Komplexität entfalten und die manchmal babyhaften Lautäußerungen in den schillerndsten chromatischen Farben erblühen lassen. Der reinste Fantasy-Sound.
Die moderate Lautstärke kommt dem Spiel der Obertonfarben entgegen (letztes Wort hat der Mann am Mischpult), unterstützt aber auch die grundsätzlich meditative Wirkung der Musik, die wie ein magisches Ritual von sechs Vokal-Priester/innen wirkt. Die Entstehungszeit 1968 hört man dem Werk allenthalben an, diese „Zeitalter-des-Wassermanns-Ästhetik“, New Age und Hare Krischna, sexuelle Revolution und Drogenexperimente, Pop Art und psychedelische Tapetenmuster. Dabei entstand die Komposition in karger schneeweißer Winterlandschaft in den USA, wo der Komponist damals zu Gast war.
Der Charakter des Werkes wechselt, abhängig von den (mit englischem Akzent rezitierten) Stockhausen-Gedichten und anderen semantischen „Verunreinigungen“, zwischen betörender überirdischer Harmonie und raunendem Hurz-Humor, zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit.

Es ist diese nicht auflösbare Ambivalenz, die das Werk davor bewahrt, einfach einen esoterischen Kuschelsound zu produzieren, die den Hörer aber auch auf Distanz zu diesem poetischen Unsinn gehen lässt. Zur Religion gehört doch die Eindeutigkeit der religiösen – heiligen! – Erfahrung – oder nicht? Soll man lachen oder beten? Beides, würde Stockhausen wahrscheinlich antworten.
Ideologisch wirkt das Werk veraltet, klanglich vermag es aber immer noch zu faszinieren.
Vielleicht belässt man es also einfach bei den akustischen Tatsachen: Vieles klingt ganz einfach wunderschön, geschmeidig, wohlgestaltet und ohne die bösen Neue-Musik-Dissonanzen, für die der Name Stockhausen sozusagen das Synonym geworden ist. Verspielte Madrigale vom Stern Sirius, wo Stockhausen nach eigenen Angaben seine musikalische Ausbildung erhalten hat. Man muss seine Verstiegenheiten nicht teilen, um sich an seinen zauberhaften Klangerfindungen zu erfreuen.

Jede Aufführung stellt eine neue Auflösung des Modul-Musters dar. Der Dirigent der Neueinspielung, Paul Hillier, stellt „Stimmung“ dabei nicht zu Unrecht Terry Rileys vier Jahre früher entstandenes „In C“ an die Seite, das ebenfalls über 50 Module von Musikern (oder Sängern) improvisierend zusammenfügen lässt. Hillier hat es vor kurzem mit dem Concerto Kopenhagen neu aufgenommen (s. Rezension).
Jetzt folgt also Stockhausens „Stimmung“ mit dem Theatre of Voices in einer neuen, so genannten „Kopenhagener Fassung“. Die meditative, vokal makellose Darstellung entspricht Hilliers auf eher weiche, abgerundete Stimmverschmelzungen angelegtem Interpretationsansatz, den er auch in der Alten Musik so bestechend kultiviert hat. Die sechs Ausführenden agieren mit dem Gespür eines Streichsextetts. Ältere Fassungen timbrieren das Werk gerne etwas schärfer. Der bei aller Avanciertheit unüberhörbare Retro-Charakter der Musik wird durch Hilliers Interpretation angenehm betont.



Georg Henkel



Besetzung

Else Torp, Louise Skovbaech – Sopran
Clara Sanabras – Mezzo-Sopran
Woldomymyr Smishkewych, Kasper Eliassen – Tenor
Andrew Hendricks – Bass
Ian Dearden – Mischpult

Ltg. Paul Hillier


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