Musik an sich


 
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Olivier Messiaen: Des canyons aux étoiles
Moderne Klassik

 

Asko Ensemble / Schönberg Ensemble / Slagwerkgroep Den Haag / Reinbert de Leeuw / Montaigne

"Aus den Schluchten zu den Sternen ..." - "Das bedeutet sich erheben aus den Schluchten bis hinauf zu den Sternen - und noch höher hinauf, bis zu den Auferstandenen des Paradieses, um Gott in der Fülle seiner Schöpfung zu preisen: die Schönheiten der Erde (ihre Felsen, ihre Vogelgesänge), die Schönheiten des sinnlichen Himmels, die Schönheiten des geistigen Himmels. Zunächst also ein religiöses Werk, ein Werk der Lobpreisung und der Kontemplation. Aber auch ein geologisches und astronomisches Werk. Ein Klang-Farben-Werk, worin alle Farben des Regenbogens um das Blau des Schwarzkopfhähers und das Rot des Bryce Canyon kreisen. Die Vogelgesänge sind vorwiegend solche des Staates Utah und der Hawaii-Inseln. Der Himmel wird durch Zion-Park und den Stern Aldebaran symbolisiert."

So weit der Ausschnitt aus dem Vorwort des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992) zur Partitur seines rund 90 Minuten dauernden Orchesterwerks von 1974. Was zunächst nach Postmoderne, Mythenmix und Esoterik klingt, führt tatsächlich ein in eine höchst eigenwillige musikalischen Welt von größter, ja überwältigender Vielfalt, die dennoch nicht in ein eklektizistisches Einerlei auseinanderfällt. Der Katholik Messiaen bekannte sich in einem Interview dazu, dass er in seiner Musik auf nichts verzichte. Das schließt die Gregorianik ebenso ein wie Dur-Moll-Tonalität, selbsterfundene Tonsysteme, indonesische Gamelan-Musik, indische Rythmen, Windgeräusche, Sternen- und Vogelgesänge. Alle klingenden Erscheinungen vereinigen sich bei ihm zu einem christlichen Gotteslob von wahrhaft kosmischen Ausmaß.

Im weitesten Sinne könnte man das vorliegende Werk vielleicht als symphonische Dichtung bezeichnen - eine symphonische Dichtung freilich, die den Charakter eine Liturgie besitzt. Den Auftrag für das Werk erhielt Messiaen von der Amerikanischen Mäzenin Alice Tully für eine Aufführung in deren privater Konzerthalle. Zunächst skeptisch, nahm er den Ort in Augenschein - er bietet Platz für etwa 45 Musiker - und begab sich dann auf eine Pilgerreise zu den Naturwundern der USA, namentlich Cedar Breaks, Bryce Canyon und Zion Park, denen dann auch drei Sätze des Werkes gewidmet sind.

Die gewaltigen Eindrücke der bizarren, orange-rot leuchtenden Felslandschaften inspirierten ihn, den Komponisten von Farbenmusiken, zu seiner vielleicht farbigsten Orchesterpartitur. Messiaen "sah" Farben, wenn er Musik hörte oder komponierte. Eine innere, geistige Schau von schillernden Kaleidoskopen und farbigen Spiralen, die sich mit der Musik bewegten und veränderten, vergleichbar den großen Rosetten gotischer Kathedralen. Für Messiaen waren dies Augenblicke des "Überwältigtseins": ein Vorgeschmack auf den Himmel und die Herrlichkeit Gottes. Jedem Tonkomplex in seiner Musik konnte er einen genau definierten Farbwert zuordnen. Es ist faszinierend und irritierend zugleich, dazu Äußerungen wie "Blau-violette Felsen, übersät von kleinen grauen Kuben, Kobaltblau, dunkles Preußischblau, mit einigen ins Violette spielenden purpurnen Reflexen, Gold, Rot, Rubin, und malvenfarbige, schwarze und weiße Sterne. Vorherrschend ist Blau-violett" von ihm zu lesen. Doch auch wenn man selbst diese Farben beim Hören nicht "sieht", so ist doch "regenbogenfarbig" das einzige Attribut, was den Charakter dieser Musik zu entsprechen scheint.

Wesentlichen Anteil an diesem Endruck haben die vom Komponisten mit der Leidenschaft und Ausdauer eines Ornithologen auf der ganzen Welt gesammelten Vogelgesänge. Diese erklingen nicht im Original, sondern in dem von Messiaen kreierten "style oiseaux", einer Bearbeitung für einzelne Instrumente oder Instrumentalensemble. Ein Beispiel gefällig? Im 2. Satz, "Die Stärlinge" überschrieben, hört man amerikanische Pirolarten, so "den Gartentrupial im Soloklavier, den Scott-Trupial im Xylorimba, den Lichtenstein-Trupial in Holzbläsern und hoher Trompete, den Baltimore-Trupial ebenfalls im Klavier, den Goldstern-Trupial ebenfalls im Xylorimba und schließlich den Haubentrupial in den Holzbläsern und im Glockenspiel." Gelt, da werden doch Befürchtungen wach, wie das wohl klingen mag ...? Der Gesang des Gartentrupial, der den Satz einleitet, ist in Messians Klaviertransformation fast anrührend melancholisch, es folgen reizvoll-befremdliche Klangfarben von Holzbläsern und Glockenspiel - offenbar der Haubentrupial - die Windmaschiene setzt ein, schließlich erklingen flirrende Streicherarkkorde von befremdlicher Süße: in diesem Kontext ein fast surrealer Effekt. Die Struktur der Musik ist zerklüfftet, voller plötzlicher Wechsel in Farben, Rhythmen, Stimmungen und Ausdrucksgehalt. Also nichts für "nebenbei" oder für den klassischen "chill out". Dafür ist diese Musik stellenweise auch viel zu sinnlich und ekstatisch, vor allem dann, wenn Messiaen die nur 42 Musiker bei der "Schilderung" der Naturwunder zu gewaltigen Steigerungen antreibt, die man einem so kleinen Ensemble überhaupt nicht zugetraut hätte. (Vor einem Jahr hörte ich das Werk im Konzert - die vorliegenden Aufnahme kann von der extremen Dynamik lediglich einen, wenn auch angemessenen, Eindruck wiedergeben.) Andererseits gibt es Momente großer Ruhe, so z. B. im 8. Satz: "Die Auferstandenen und der Gesang des Stern Aldebaran", eine zehminütige, schimmernde Streicherphrase in "saphirblau" und fast schon zu schön.

Die vorliegende aktuelle Wiederveröffentlichung ist zwar schon acht Jahre alt, aber nichts desto trotz höchst befriedigend. Reinbert de Leeuw und seine drei Spezialensembles realisieren die äußerst schwierig zu spielende Musik mit größter Selbstverständlichkeit und, bei aller Intensität und nötigen Wucht, mit wunderbarer Durchhörbarkeit und ohne lärmendes Pathos (diese Gefahr besteht bei Messiaen manchmal). Im Grunde ist es ja ein Werk für 42 Solisten - da wäre jeder einzeln zu würdigen. Ein besonderes Lob gilt hier neben den famosen Schlagzeugern der Pianistin Marja Bon, die ihre Kunst u. a. in zwei Solosätzen zeigen kann und der man die ornithologische Schwerstarbeit nicht anmerkt. Hans Dullaert meistert die Partie des Solohorns, dem Messiaen ein außergewöhnliches Ausdrucks- und Klangspektrum abfordert: dieser "Interstellare Ruf" geht durch Mark und Bein. Vielleicht das ungewöhnlichste und auch emotional beeindruckendste Stück des ganzen Werkes. Die Verlorenheit des Menschen angesichts der Unendlichkeit des wird im Schlußsatz mit einem gewaltigen "himmelblauen" A-Dur-Jubel beantwortet, den das Ensemble auch wirklich so musiziert: "unwandelbar wie die Ewigkeit" - so der Komponist.

Wer neugierig ist auf neue Töne, sollte es vielleicht mal mit dieser Aufnahme probieren ... ich garantiere ein besonderes Hörabenteuer für offene Ohren. Zumal es zwei CDs zum Preis von einer gibt.

Repertoire: 5 Punkte
Interpretation: 5 Punkte
Klang: 5 Punkte
Edition: 4 Punkte (Für den Pappschuber müßte es eigentlich vier Punkte Abzug geben: bevor ich auch nur die erste CD im Spieler hatte, waren beide schon zweimal rausgefallen. Wer denkt sich so etwas nur aus?)

19 von 20 Punkte

Georg Henkel
 

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