Dream Theater

Distance Over Time Demos (2018)

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Nach dem eher kleinteilig strukturierten, teils eher zurückhaltenden und nicht mit uneingeschränkter Begeisterung rezipierten The Astonishing beschlossen Dream Theater, für ihr nächstes Album wieder eine härtere Metalkante zu fahren und etwas direkter zu agieren. Ergo griffen sie auf eine bereits bei Train Of Thought bewährte Methode zurück, schlossen sich für eine gewisse Zeit in einem abgelegenen Ort ein – und siehe da, nach bereits zweieinhalb Wochen verließen sie Yonderbarn mit einem instrumental quasi fertigen Album im Gepäck, das dann letztlich Distance Over Time getauft wurde. So lautet jedenfalls die Fama, die die Band später verbreitete – der Digipack der hier im Rahmen der Lost Not Forgotten Archives-CD-Serie veröffentlichten Demoaufnahmen weist allerdings eine Aufnahmeperiode von Juni bis September 2018 aus. Da serientypisch ansonsten wenig bis keine Informationen struktureller Art mitgeliefert werden, kann also nicht entschieden werden, wie die Sache nun tatsächlich abgelaufen ist, wobei es natürlich immer noch die diplomatische Variante gibt, dass das mit den 18 Tagen tatsächlich stimmt, diese aber nicht am Stück, sondern auf den genannten Zeitraum verteilt stattfanden. Der Digipack nennt allerdings auch James LaBrie als Mitwirkenden – dass der bei den Writingsessions anwesend war, kann natürlich sein, aber auf den Demoaufnahmen zu hören ist er nicht: Sie enthalten weder Lead- noch Backingvocals, so dass diese Passagen also offenkundig erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgearbeitet wurden – es ist auch keine Pilotspur o.ä. da.
Die vorliegende CD beinhaltet die Songs in der Reihenfolge, wie sie geschrieben wurden. Bereits in der Vergangenheit kam es häufig vor, dass sich Dream Theater bei Writingsessions zuerst an ein längeres Epos setzten, weil ihnen dieses als Initialzündung oft leichter von der Hand ging als eine kompaktere Nummer. Das ist auch diesmal der Fall, wobei „längeres Epos“ hier relativ zu betrachten ist: „At Wit’s End“ knackt die Zehnminutenmarke nicht, ist für Bandverhältnisse also noch als geradezu übersichtlich zu bezeichnen, zumal auch strukturell ein klarer Plan vorherrscht, was selbstredend die Kombination emotional verschieden gefärbter Passagen einschließt. Wer die späteren Albumversionen kennt, stellt fest, dass bei den eigentlichen Aufnahmen nur noch sehr wenig verändert wurde, was auch auf die anderen neun Songs zutrifft. Auch ein Teil der Leads sowohl aus den Gitarren als auch aus den Keyboards ist in diesen Demoversionen bereits fest angelegt – sehr schön zu hören ist das etwa in den doppelläufigen Passagen im als vierter Song geschriebenen „Untethered Angel“, der letztlich zum Opener des Albums avancierte. Damit ist ein markanter Unterschied zu den in der gleichen Serie veröffentlichten Train Of Thought-Demos benannt, die noch in einem Stadium weitgehend ohne Leads konserviert worden waren. Auch bestimmte Spezialeffekte sind in den Distance Over Time-Demofassungen bereits vorhanden, etwa die altertümlichen, wie aus einem historischen Radio klingenden Sounds im Finale von „At Wit’s End“ – und den hymnischen Refrain hört man quasi auch ohne Gesang schon irgendwie vor sich. Nachdem das Epos geschafft war, trauten sich Dream Theater dann auch gleich an die kompakteren Nummern und schufen das harte „Paralyzed“ und die Halbballade „Out Of Reach“, bevor mit dem erwähnten „Untethered Angel“ wieder eine komplexere Arbeit anstand, der man aber vor allem in den intensiven Soli den Spaß anhört, den alle Beteiligten offenkundig bei diesen Sessions hatten. Nach dem harten „Room 137“, für das später auch Drummer Mike Mangini Lyrics beisteuerte, was einzigartig in der Bandgeschichte bleiben sollte, bekommt der Schlagwerker im recht verschachtelten „Fall Into The Light“ eine ganze Menge zu tun, arbeitet für eine kleine Weile auch mal als einziger Instrumentalist und weiß aber natürlich auch, dass er sich im zentralen Akustikpart eher zurückhalten sollte – er agiert hier vor allem bei den Becken gerade an der Grenze dessen, was noch sinnvoll ist. Dass der anschließende hymnische Teil Erinnerungen an Karats „Albatros“ hervorruft, dürfte purer Zufall sein, und wenn Petruccis sehnsuchtsvolle Leadgitarrenlinie einsetzt, verschwinden die Parallelen auch sofort wieder – das hätte Bernd Römer in dieser Form so nie gespielt. In den späteren Livedarbietungen, etwa in Berlin konserviert, mutete der Song phasenweise noch einen Deut melodicrockiger ab, während die Seventies-Einflüsse in „Barstool Warrior“ in der Demofassung nicht ganz so deutlich durchscheinen, trotzdem aber natürlich eindeutig wahrnehmbar bleiben, genauso wie der Fakt, dass Dream Theater hier selbstredend nicht blind herumkopieren, sondern die historischen Einflüsse sozusagen in ihren Sound übersetzen.
Song 8 könnte für manchen Hörer einen Grund bilden, sich diese Aufnahme zuzulegen – „Viper King“ stand nämlich nicht auf der normalen Endfassung von Distance Over Time, sondern fand nur als Bonustrack der Limited Edition Verwendung. Nach dem Hören dieser Demofassung wird aber der eine oder andere doch noch in Versuchung geraten, sich auch noch die Vollversion des Songs zu beschaffen, denn wie die Instrumentalisten hier Funkrock und feisten Doom koppeln, das macht einerseits Laune, aber andererseits neugierig, was und in welchem Stil LaBrie dazu singt. Dass im Studio natürlich noch Verfeinerungen stattgefunden haben, zeigt „Pale Blue Dot“, dessen Filmsample im Intro der Demofassung noch fehlt, wobei dieses Intro wohlige Erinnerungen an atmosphärische Großtaten der Münchener Freiheit hervorruft – auch das mag Zufall sein, obwohl bekannt ist, dass Keyboarder Jordan Rudess das 70er-Soloschaffen von Stefan Zauner sehr schätzt. Der Song, als vorletzter geschrieben, verdeutlicht nochmal den Spaß der Band, ihre instrumentalen Fähigkeiten auch mal plakativ in den Vordergrund zu stellen – nachdem sozusagen die „songdienliche Pflicht“ mit den acht Nummern zuvor getan ist, darf man auch mal ein bißchen das spieltechnische Genie raushängen lassen. Dass der Song letztlich den Closer von Distance Over Time bildete, verwundert irgendwie nicht. Aber die Kreativität hat dann letztlich doch noch für einen weiteren gereicht, bescheiden „S2N“ („Second To None“) getauft und bisweilen auch wieder leicht angefunkt.
Wen die Songtitel in diesem Review verwundern, wo es doch noch gar keinen Gesang und damit auch keine Texte gibt: Sie dienen sozusagen nur der besseren Orientierung des Hörers. Diesen Service gibt’s auch schon von der Band bzw. dem Label: Auf der Rückseite des Digipacks steht erstmal nur „Song 1“ bis „Song 10“, dahinter dann aber jeweils in Klammern der finale Titel auf dem Studioalbum, so dass man dieses nicht zwingend auswendig kennen muß, um die Demoversionen richtig zuzuordnen. Für Menschen, denen Distance Over Time gefallen hat und die tiefer in die Kreativstube der Band eintauchen wollen, könnten diese Demoversionen sehr interessant sein, da man dort speziell die finale Feinarbeit analysieren kann, also welche Strukturen letztlich unverändert übernommen wurden, wo noch nachgefeilt wurde und was noch dazugekommen ist. Auch ein Vergleich mit den Livefassungen lohnt sich durchaus – sechs der Songs finden sich auf dem offiziellen Livedokument Distant Memories: Live In London, vier auch auf dem erwähnten Berlin-Mitschnitt. Für Einsteiger ist das natürlich alles nix – wer sich als James LaBrie versuchen will, kann die Demofassungen aber zumindest als Karaoke-Background nutzen.


Roland Ludwig


| Trackliste |
| 1 | Song 01 (At Wit’s End) | 9:12 |
| 2 | Song 02 (Paralyzed) | 4:23 |
| 3 | Song 03 (Out Of Reach) | 4:04 |
| 4 | Song 04 (Untethered Angel) | 6:19 |
| 5 | Song 05 (Room 137) | 4:10 |
| 6 | Song 06 (Fall Into The Light) | 7:05 |
| 7 | Song 07 (Barstool Warrior) | 6:40 |
| 8 | Song 08 (Viper King) | 4:01 |
| 9 | Song 09 (Pale Blue Dot) | 8:18 |
| 10 | Song 10 (S2N) | 6:21 |
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| Besetzung |
 John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Mangini (Dr)

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