Suzie lächelte Venom an: John Tucker arbeitet die Geschichte von Neat Records auf




Info
Autor: John Tucker

Titel: Neat & Tidy! The Story of Neat Records

Verlag: I.P. Verlag Jeske/Mader GbR

ISBN: 978-3-940822-04-8

Preis: € 24,80

384 Seiten

Internet:
http://www.johntuckeronline.co.uk

Die ab 1979 losschwappende und ab 1980 mit diesem Begriff belegte New Wave of British Heavy Metal übernahm von der wenige Jahre zuvor durchs Land gerollten Punkbewegung unter anderem den Do-it-yourself-Gedanken, was die Veröffentlichung von Tonträgern anging. Wenn sich kein Majorlabel für einen interessierte und auch keines der schon existenten, aber nicht eben zahlreichen Indielabels, gründete man halt selbst eine Plattenfirma. Bei vielen Bands beschränkte sich deren Tätigkeit auf das Veröffentlichen der eigenen Tonzeugnisse, nur sehr wenige begannen auch mit anderen Bands zu kooperieren und damit etwas zu wachsen.
Daneben gab es auch andere Entwicklungswege für Plattenfirmen, und ein relativ logischer wurde im Falle von Neat Records beschritten. David Wood war bereits seit den 1960ern im Musikgeschäft aktiv und zählte u.a. zu den Miterfindern des DJ-Systems, also des Auflegens von Schallplatten mit gelegentlich dazwischengeschalteten Moderationen als eigenständige Form der Beschallung eines Auditoriums. Später betrieb er die Impulse Studios, die in Wallsend, einem Stadtteil des nordostenglischen Newcastle, in einem stillgelegten Theater, dem Borough Theatre, untergebracht waren, und bot einigen der bei ihm aufnehmenden Bands an, ihre Aufnahmen zu veröffentlichen, wofür über die Jahre hinweg eine ganze Menge verschiedener Labelnamen entstanden, die zumeist für eine bestimmte Stilrichtung standen. Relativ populär wurden Rubber, die sich im Folksektor bewegten und mit Rochdale Cowboy von Mike Harding einen für ihre Verhältnisse (wir sprechen auch hier noch von einem Indielabel mit sehr überschaubarer Marktmacht) großen Erfolg feiern konnten. Auch Sting machte viele seiner Prä-Police-Erfahrungen im Dunstkreis der Impulse Studios, etwa mit zahlreichen Aufnahmen seiner damaligen Formation Last Exit, die sich freilich noch im tiefsten Underground bewegte – die spätere Weltkarriere des Mannes, dessen Vater der Milchlieferant (!) für das Studio war, konnte damals noch niemand vorhersehen. Anno 1979 kam Wood auf die Idee, noch ein weiteres Label zu gründen, und aufgrund des Wortspiels „neat and tidy“ (sinngemäß für eine überhöhende Tautologie stehend, etwa im Sinne von „blitzblank“) verfiel er auf Neat Records, den Namen Tidy Records für ein eventuelles späteres nächstes Label aufhebend, was dann allerdings nie Realität wurde.
Obwohl wir uns nunmehr im Jahr 1979 befinden, startete Neat keineswegs als Metal-Label. Die erste Single stammte von einer Band namens Motorway und enthielt eher Poprock – die Band nannte sich nach diversen Umbesetzungen später Action, und dann gehörte auch ein junger Sänger/Gitarrist namens Andy Taylor zur Formation, der noch etwas später mit Duran Duran zu Weltruhm kam. Auf der zweiten Neat-Single war immer noch kein Metal zu finden, sondern abermals leichtgewichtiger Stoff von Janie McKenzie, einem früheren Kinderstar, der gerade erst ganz am Anfang des Weges zur späteren anerkannten Rocksängerin stand. Erst die im Dezember 1979 als Neat 03 erschienene Single Don’t Touch Me There einer Band mit dem eigentümlichen Namen Tygers Of Pan Tang bahnte den Weg des Labels als eine der wichtigsten Haupttriebkräfte der jungen Metal-Bewegung, was sich mit den drei Single-Releases des Jahres 1980 fortsetzte, die von Fist, White Spirit (der Band von Janick Gers, der später mit Iron Maiden zu Ruhm kam) und Raven stammten. Gerade Don’t Need Your Money der letztgenannten wies den Weg in eine musikalisch neue Zeit, was sich 1981 fortsetzte, als auch die ersten vollen Longplayer auf Neat erschienen: der zunächst nur auf Kassette erhältliche Sampler Lead Weight, das Raven-Debüt Rock Until You Drop und Welcome To Hell von Venom, deren Cronos unter seinem bürgerlichen Namen Conrad Lant schon geraume Zeit als Tape Operator (worunter eine Art Mädchen für alles zu verstehen war) in den Impulse Studios arbeitete. Mit den beiden letztgenannten Bands schrieben Neat also ein mittelschwergewichtiges Stück Metalgeschichte, doch konnte das Momentum nicht in eine Dauerlösung überführt werden: Etliche potentiell große Bands wanderten zu Majorlabels ab, allen voran die genannten Tygers Of Pan Tang und White Spirit, und da Wood sein bewährtes Geschäftsmodell nicht aufgeben wollte und große Investitionen in die Bands eher zurückhaltend betrachtete, verloren Neat schrittweise an Bedeutung, parallel zum Niedergang der NWoBHM, deren Revival erst in den 1990ern einsetzte. Auch die räumliche wie stilistische Ausweitung des Portfolios (einerseits nicht-englische Metalbands wie die Dänen Artillery, andererseits Punkcombos wie die Cockney Rejects) brachte das Label nicht wieder in die Erfolgsspur, und die Revitalisierung als Neat Metal in den Mittneunzigern unter Federführung von Jess Cox, dem Ur-Sänger der Tygers Of Pan Tang, lief einige Jahre ganz ordentlich, bis Cox an der Arbeitsbelastung scheiterte und das Label an Sanctuary verkaufte, die es noch einige Jahre weiterbetrieben. Wood seinerseits machte mit dem Studio und anderen Labels weiter und hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt.

Zu den begeisterten Kunden, die die Releases von Neat Records bald direkt beim Label bestellten, zählte John Tucker, der schon in seiner Heimatstadt Torquay selbstaufgenommene Kassetten mit Material früher Neat-Singles besaß und dann zum Sammler wurde, nachdem er 1980 in Swansea zu studieren begonnen und einen studentischen Rockclub gegründet hatte. Ab 1985 stand er dann sogar direkt bei Neat „unter Vertrag“ – er koordinierte das labelinterne Promo-Magazin „Lead Weight“ (damit den Namen des ersten Full-Length-Releases aufgreifend) und schrieb auch das Gros von dessen Inhalten, bevor er während der Arbeit an Ausgabe 5 das Handtuch warf. Seiner Verbundenheit zum Label und seinen Releases sowie zur NWoBHM als Ganzes tat das aber keinen Abbruch, und nachdem er bereits ein NWoBHM-Grundlagenwerk namens „Suzie Smiled“ (wieder ein alter Songtitel der Tygers Of Pan Tang) veröffentlicht und sich entschlossen hatte, nun auch noch die konkrete Geschichte von Neat Records in Buchform aufzuarbeiten, und 2010 eine entsprechende Veröffentlichungsvereinbarung mit dem I.P. Verlag schloß, stürzte er sich in die Arbeit, die freilich viel umfangreicher ausfiel, als er sich anfangs gedacht haben mochte, so dass das „Neat & Tidy!“ betitelte Buch letztlich erst 2015 erschien (und sieben Jahre später endlich auch im Bücherschrank des Rezensenten gelandet ist und im Urlaub in Bosnien und Herzegowina gelesen wurde). Nach einem Geleitwort von Carcass-Gitarrist Bill Steer, auch ein alter Fan der Neat-Releases, folgen eine Einleitung und neun Hauptkapitel, die letzteren fast durchgängig chronologisch geordnet, aber eben nur fast: Die Karrieren von Raven und von Venom bekommen jeweils ein eigenes Kapitel, das sich dann von der Gründung bis zur Jetztzeit erstreckt und folglich aus dem rein chronologischen Rahmen herausfällt. Auch innerhalb der sonstigen chronologischen Kapitel finden sich gelegentliche zeitliche Verschränkungen in der Behandlung der Geschicke einzelner Formationen. Ansonsten zieht Tucker die Linie aber relativ gerade durch die Geschichte, von den oben geschilderten Anfängen bis zur Situation im 21. Jahrhundert. Dazu gesellen sich sechs Anhänge, anhebend mit dem Verzeichnis der interviewten Personen (die Liste ist recht lang) und dem Literaturverzeichnis, die wichtigsten strukturellen Informationen aber in den Anhängen 3 und 4 zusammengefaßt habend: die komplette Neat-Diskographie, aufgeteilt in Singles und Full-Length-Releases. Klar, auf Discogs gibt’s das mittlerweile auch im Netz, aber was man schwarz auf weiß besitzt, kann man auch heute noch getrost nach Hause tragen, wie schon Goethe wußte. Ein Kuriosum findet sich hier auch: Zusatzinformationen und Quellenangaben zu den einzelnen Kapiteln, die wie Fußnoten aussehen, aber keine Bezifferung tragen, so dass man einige Sucharbeit hat, bis man die jeweiligen Stellen vorn im Text der jeweiligen Zusatzinformation zuordnen kann. Ob das vielleicht wirklich Fußnoten sein sollten, deren Ziffern irgendwo beim Umsetzen ins Layoutprogramm verschollen sind?
Tucker schreibt ein gut verständliches Englisch, spickt seinen Text mit Humor und scheut sich auch nicht, durchaus kritische Äußerungen seiner Interviewpartner aufeinanderprallen zu lassen bzw. unterschiedliche Erzählungen historischer Fakten nebeneinanderzustellen, um dem Leser zu überlassen, was er für die historische Wahrheit hält. Trotz aller Liebe zum Sujet (seine Gattin Lia hatte, so äußert er im Vorwort, sogar vorgeschlagen, das Buch My Love Affair With Neat Records zu nennen) bleibt er zumeist auf der Sachebene, reiht Fakt an Fakt und vergißt auch die große Gesamtbetrachtung nicht. David Wood selbst kommt natürlich ausführlich zu Wort (er wurde zweimal interviewt, 2010 und 2013), aber darüber hinaus viele der damaligen Musiker, Journalisten und so mancher anderer Zeitzeuge, so dass das Buch ein wichtiges Zeugnis der oral history darstellt.
Zahllose historische Fotos (einige auch in Farbe) und einige Dokumente bereichern die 384 Seiten, und nur die Entscheidung des Layouters (wer das ist, steht im Buch nirgends vermerkt), auf einigen Seiten die Silhouetten von Bandlogos in den Hintergrund zu legen, macht das Lesebild hier und da etwas unruhig, auch wenn dadurch eine gewisse optische Abwechslung entsteht. Als kongenialer, wenn auch naheliegender Einfall geht die Covergestaltung durch, die eine Neat-Single optisch nachbildet. So wird das Buch in der Summe zur Pflichtlektüre für alle, die sich für die Geschichte der NWoBHM interessieren.


Roland Ludwig



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