Winchester Tropar u.a. (Livljanic, K.)

Swithun! Demons and Miracles


Info
Musikrichtung: Mittelalter Vokal

VÖ: 01.10.2021

(Arcana / Note 1 / CD DDD / 2019 / Best. Nr. A491)

Gesamtspielzeit: 66:13



MYSTERIENSPIEL

Dem anglo-sächsischen Heiligen Swithun, den man sich den Legenden zufolge als eine Art christlichen Superhero vorstellen muss, hat das Ensembles „Dialogos“ seine neueste Platte gewidmet.
Die vier Damen unter der Leitung von Katarina Livljanic greifen dafür auf diverse literarische und musikalische liturgische Quellen insbesondere aus dem Umfeld von Winchester zurück, wo Swithun im 9. Jahrhundert als Bischof wirkt – also in jener Epoche, die als die dunkelste des als finster verschrieenen Mittelalters gilt.
In der dortigen Kathedrale befand sich bis zur englischen Reformation der Schrein des Heiligen, dort fabulierten und dichteten der Cantor Wulfstan und ein gewisser Aelfric um das Jahr 1000 an der Biographie des Wundertäters und Dämonenbändigers Swithun. Fantastisches und Reales verschmelzen dort zu einem Stoff, aus dem man Filme machen kann. Oder ein Musikprogramm.

Dafür hat Livljanic vor allem auf das Winchester Tropar zurückgegriffen, eine Musikhandschrift, die um das Jahr 1000 entstanden ist. Die linienlosen Neumen lassen viel Spielraum für die Interpretation, ebenso die zeitgenössischen theoretischen Traktate wie die „Musica enchiriadis“ und Guido Arezzos „Micrologus“. Aufgeführt wurden die Gesänge wohl von zwei Stimmen, die die originären gregorianischen Choralmelodien sangen, sowie zwei weiteren, die dazu nach den damals geltenden Regeln eine weitere Stimme hinzuimprovisierten: eine der Geburtsmomente der abendländischen Mehrstimmigkeit.

Die archaischen, formelhaften Wendungen mit ihren Quint- und Quart-Intervallen und den schön dissonanten Reibungen werden vom Ensemble „Dialogos“ mit Engelszungen, aber ohne falsche Keuschheit in der offenen, weiträumigen Akustik der französischen Abteikirche von Norilac gesungen. Aber nicht nur dies: Lateinisches, Altenglisches und Griechisches, Flüsterpassagen, Psalmodieren, heterophone Umspielungen … all dies sorgt dafür, dass die Legende um St. Swithun sich zwischen Himmel, Erde und gelegentlich auch Hölle nicht nur meditativ, sondern mit einem gewissen klanglichen Abwechslungsreichtum entfalten. Dass die Grenzen zwischen musikalischer Rekonstruktion und Fiktion dabei notwendig fließend sind, spielt angesichts der durchaus überzeugenden Gesamtwirkung dieses „Mysterienspiels“ eigentlich keine Rolle.



Georg Henkel



Besetzung

Dialogos: Christel Boiron, Clara Coutouly, Caroline Gesret, Katarina Livljanic (Leitung)


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