Aus Böhmen kommen die Vorhänge: Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester spielen Vorisek und Mozart




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 19.09.2020

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Abbildung: Jan Václav Vorísek - Lithographie von Godefroy Engelmann, um 1830

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Nachdem natürlich auch das Gewandhausorchester seit Mitte März nicht mehr spielen durfte und die konzertlose Zeit mit der Bereitstellung von Onlineangeboten (Mitschnitten der vergangenen Jahre) und einigen kleineren Veranstaltungen im Juni/Juli, als erste Lockerungen des Lockdowns diese wieder möglich machten, zu überbrücken versuchte, beginnt die 240. Saison des Klangkörpers nun im September wieder im größeren Maßstab, soweit das die aktuellen Regularien zulassen. Heißt praktisch: Das Hygienekonzept erlaubt die Besetzung von 766 der regulären 1902 Plätze im Großen Saal, teilweise als Zweier-, teilweise als Einzelsitze, und da das natürlich nicht einmal reicht, um die Abonnenten unterzubringen, wird bei vielen Konzerten zumindest noch ein Zusatztermin angesetzt, so dass sie also nicht zweimal wie sonst üblich, sondern dreimal gespielt werden – bei besonders stark nachgefragten Programmen war das in den letzten Jahren sowieso schon so praktiziert worden und wird also nun vorerst zum Regelfall. Die Eröffnungskonzerte gestaltet Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons am zweiten Septemberwochenende, und eine Woche später steht sein Vorvorgänger am Pult: Herbert Blomstedt zählt mittlerweile 93 Lenze, ist aber fitter als mancher halb so alte Kollege – und experimentierfreudig: Aufgrund der auch für die Musiker geltenden Abstandsregeln paßt momentan nur eine bestimmte Zahl auf die Bühne, so dass gerade die großen spätromantischen Sinfonien, die einen Kern des Gewandhausorchester-Repertoires bilden, derzeit nicht aufgeführt werden können. Ergo müssen die üblicherweise ja schon jahrelang vorausgeplanten Konzertprogramme teilweise verändert werden, und für dieses Konzert, für welches eigentlich Mahlers riesig besetzte Neunte vorgesehen war, hatte die Dramaturgieabteilung des Gewandhauses eine ganz spezielle Idee. Es sollte ein Gedenkkonzert für Blomstedts Vorvorgänger als Gewandhauskapellmeister, Václav Neumann, werden, an dessen 100. Geburtstag und 25. Todestag erinnernd. Da bot sich zunächst Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie D-Dur KV 504, die sogenannte Prager Sinfonie, an, die Neumann bereits kurz nach seinem Leipziger Amtsantritt 1964 in einem Programm des damaligen Jugendkonzertrings spielte. Neben diesem bekannten Werk grub man aber noch ein weitgehend unbekanntes aus: Mit der Sinfonie D-Dur op. 23 von Jan Václav Vorísek hatte Neumann in Prag noch während des Zweiten Weltkrieges sein Examen als Dirigent abgelegt. Seither war es zweimal in Gewandhausprogrammen erklungen, 1959 und 1988, beide Male von Dirigenten böhmischer Herkunft geleitet, nämlich Alois Klíma und Jirí Belohlávek – also no Neumann at all. Vielleicht hätte der das Werk irgendwann noch ausgegraben, wenn er sein Amt nicht nach nur vier Jahren wegen des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei aufgegeben hätte, sondern länger geblieben wäre. Aber das bleibt pure Spekulation, und Blomstedt ist nun also sowieso der erste „nichtböhmische“ Dirigent, der diese Sinfonie mit dem Gewandhausorchester darbietet.

Hat der Besucher an diesem Abend (ordnungsgemäß maskiert und seine Jacke auf dem freien Nachbarsitz ablegend – einen Garderobenservice gibt es aktuell nicht) seinen Platz erreicht, fällt zunächst ins Auge, dass der Bühnenumbau komplettiert ist, der sich über die letzten drei Sommer hingezogen hat. Auf der Bühne stehen wie schon angesprochen lauter Einzelpultplätze, und einige davon sind auch schon besetzt – einen gemeinsamen „Einmarsch“ der Musiker wie sonst üblich gibt es diesmal nicht, sondern alle Musiker kommen einzeln auf die Bühne und beginnen sich warmzuspielen, wie man das auch von amerikanischen Orchestern kennt. Bei denen kommt der Konzertmeister allerdings als Letzter, und wenn der da ist, gibt die Oboe den Stimmton. Das ist hier anders: Frank-Michael Erben nimmt bereits deutlich früher seinen Platz ein, und das Stimmen erfolgt dann nach der üblichen Mitschnitte-und-Hörgeräte-Ansage, während das gleichfalls neue Bühnenlicht gedimmt wird. Von da an läuft auf der Bühne alles nahezu so ab, wie man das gewohnt ist – mit einer Ausnahme: Da jeder ein eigenes Pult vor sich hat, muß auch jeder die Noten umblättern, während sonst bei den doppelt besetzten Pulten einer blätterte und der andere durchspielen konnte, sofern das notwendig war. Die neue Lage erfordert also mehr Einfühlungsvermögen vom Dirigenten, mehr Geschicklichkeit der Musiker und gegebenenfalls auch mehr Kreativität beim Erstellen des Stimmenmaterials, um möglichst viele Blätterstellen „gefahrlos“ zu gestalten, also wenn die betreffende Stimme sowieso pausiert. Nichtsdestotrotz fällt an diesem Abend ein Aspekt besonders stark auf: Man glaubte schon seit den Bühnensoundverbesserungen zu Beginn der Saison 2019/20 die auf der Bühne entstehenden Zusatzgeräusche, also auch die Blättergeräusche, im Zuschauerraum deutlicher wahrzunehmen als früher, und das scheint sich aktuell noch verstärkt zu haben, wobei man freilich schnell lernt, diese Geräusche weitgehend auszublenden. Möglicherweise spielt auch der veränderte Sound im ja nur zu einem Drittel gefüllten Zuschauerraum eine Rolle – die Zuschauer konzentrieren sich ja nicht wie sonst, wenn eine Gastveranstaltung nur zu einem Drittel verkauft war, in bestimmten Regionen des Saals, sondern sind über den ganzen Raum verteilt. Und noch ein Aspekt bleibt festzuhalten: Das Gewandhaus hat selbstverständlich darauf hingewiesen, dass man mit COVID-19-kompatiblen Erkältungssymptomen keinen Zutritt zum Konzert erhält, und so ist die Husterquote im Publikum zumindest am vom Rezensenten besuchten Abend so niedrig wie wohl noch nie, und es herrscht eine speziell den Piano-Passagen stimmungsseitig enorm zugutekommende Ruhe im Raum.

Nach soviel „Vorgeplänkel“ nun endlich hinein ins musikalische Geschehen, und das hebt mit Voriseks erwähnter Sinfonie an. Der Komponist, ein mit nur 34 Jahren verstorbener Zeitgenosse Beethovens und mit jenem auf verschiedenste Weise verbunden, wählt für seinen einzigen, 1823 vollendeten Gattungsbeitrag die klassische viersätzige Form. Das eröffnende Allegro con brio beginnt mit nur kurzem Abtasten, bevor alles in einen souveränen Fluß mündet, in dem Dirigent und Orchester so eine ruhige Souveränität ausstrahlen, dass man gar nicht auf die Idee käme, es habe ein halbes Jahr kein gemeinsames Musizieren stattfinden können. Klar, da sitzen Vollprofis – aber auch die sind nur Menschen, und diese müssen es schaffen, sowohl untereinander als auch mit dem Dirigenten auf einen gemeinsamen schwingenden Nenner zu kommen, und das ist im laufenden Betrieb natürlich viel einfacher als nach einer solch langen Pause. Aber all das bleibt theoretische Überlegung: Die „Unfalldichte“ an diesem Abend liegt auf minimalem Level, und da viele der Musiker ja jahre- oder gar jahrzehntelang unter Blomstedts Führung musiziert haben, ist auch da ein sozusagen blindes Verständnis vorhanden, bestärkt noch durch den Aspekt, dass der Rezensent die dritte Wiedergabe des Programms erlebt, also schon zwei Gelegenheiten bestanden, sich aktuell wieder aufeinander „einzugrooven“ – und dass diese Sinfonie nahezu keiner zuvor schon mal gespielt hat, auch Blomstedt nicht, eint alle zudem im Erkundungsdrang von Neuland. Und da pflückt man so manche Blume, etwa die äußerst lieblichen Oboenkontrapunkte im Seitenthema. Blomstedt setzt ein recht zügiges Tempo an, hält den Energietransport aber auf überschaubarem Niveau – dafür ist alles kristallklar durchhörbar, und der perfekt ausgemeißelte Satzschluß steht wie eine Eins.
Das Andante täuscht einen Bombastfaktor an, der später ausbleibt – schon das Hauptthema nimmt der Dirigent weit zurück und transportiert wieder diese ruhige Souveränität. Für den Lieblichkeitsfaktor sorgt hier der Solocellist, der mit seinem Instrument wunderbar „singt“, und auch die teils choralartigen Bläser wissen zu überzeugen. Ein wenig Dramatik gibt es dann doch noch, wenn ein Fast-Stillstand von finster sägenden Violinen abgelöst wird – aber Blomstedt ist nicht gewillt, hier Extreme auszuloten, wie das vielleicht Nelsons an dieser Stelle getan hätte. Seine Strategie paßt auch prima zur behutsamen Ausformulierung des Schlußgedankens, nach dem einiges an Spannung stehenbleibt.
Das Scherzo wird von Ann-Katrin Zimmermann im Programmheft mit dem Attribut „grimmig“ versehen, aber der Dirigent hat offenbar eine andere Idee, wie das klingen soll: Energie ja, Dramatik auch, Schärfe indes nein, zumindest längere Zeit nicht, bevor sie dann doch noch um die Ecke gebogen kommt, freilich ohne gar zu grimmige Attitüde. Der Kontrast zum Trio bleibt trotzdem ausgeprägt genug, denn dort darf ein an diesem Abend butterweiches Solo-Horn zaubern, und in der Reprise kommt die Schärfe dann tatsächlich etwas eher um die Ecke getrabt.
Das Finale trägt mit Allegro con brio die gleiche Tempobezeichnung wie der erste Satz – aber in der Gestaltung dieses Abends unterscheiden sich die beiden wie Tag und Nacht. Blomstedt zieht die Schärfe aus dem Scherzo gleich rüber, nimmt die Kontraste im Hauptthema viel ausgeprägter als alles ähnlich Strukturierte in dieser Sinfonie bisher, läßt die böhmischen Gedanken im Nebenthema im Holz durchlugen und gestaltet auch einige überraschend düstere Einfälle des Komponisten überzeugend. Er schafft es, dass das Orchester in ruhigeren Passagen nicht zu schleppen beginnt, führt souverän durch die relativ kleinteilig strukturierte Durchführung, fordert bedarfsweise Dynamik und bekommt sie auch. Dass der Komponist diesen Satz mit einem bombastischen Finale krönt, war zwar gemäß klassischer Auffassung zu erwarten, aber wie Blomstedt den nach einer knappen halben Stunde überwiegender Zurückhaltung aufschichtet, das spricht mal wieder für die Meisterschaft des 93-Jährigen. Der Applaus fällt schon recht intensiv aus – und obwohl der Rezensent mit Frank-Michael Erbens Empfinden, wann man noch einen Vorhang zuläßt oder aber die Vorstellung beendet, durchaus öfter nicht konform geht, so ist das an diesem Abend anders: Erben bleibt länger sitzen als vor der Pause üblich, und Blomstedt bekommt den ersten – und verdienten – Extra-Vorhang.

Wolfgang Amadeus Mozarts sogenannte Prager Sinfonie, anno 1787 in ebenjener Stadt uraufgeführt, teilt mit Voriseks Sinfonie die Tonart D-Dur, aber nicht die Grundstruktur: Sie ist nur dreisätzig – zwei schnellere Außensätze rahmen einen langsameren Mittelsatz, also die Grundkonstellation einer Opernouvertüre italienischer Prägung oder auch des traditionellen Instrumentalkonzerts. Der erste Satz hebt allerdings mit einer Adagio-Einleitung an, die Blomstedt behutsam, fast tastend nimmt, aber selbst wenn hier ein paar Einsätze wackeln, ist trotzdem der Grundfluß schnell hergestellt, und das Tempo kann bedenkenlos lange weit unten bleiben – die „kratzige“ Paukenfigur sorgt für genug Strukturmaterial. Im Übergang zum Allegro darf die Oboe wieder Eleganz entfalten und tut das auch – und Eleganz ist auch ein gutes Stichwort für das Allegro: Blomstedt läßt nur unterschwellig Tempo machen und erreicht damit eine markante Eleganzerhöhung, der diverse Bombastausbrüche willkommene Farbtupfer aufsetzen. Und wie er die ersterbenden Klänge am Übergang zur Coda zeichnet, da liegen die ganzen 93 Jahre Musikerfahrung des großen Schweden drin.
Die Unruhe in der Einleitung zum Andante-Satz legt sich schnell, und bald darf man sich wieder an den exzellenten Einzelleistungen erfreuen, die man von solchen Ausnahmekönnern erwartet, wenn die Violinen zarte Tupfer setzen und die Hörner abermals Butterweiches liefern, kongenial von den Fagotten in gleicher Manier unterstützt. Die gelegentlichen Anflüge von Dramatik paßt der Dirigent ebenso gekonnt ins große Gesamtbild ein wie einige winzige Verharrungen, die dem Geschehen eine Extraportion Dynamik verleihen. So entsteht eine Art unauffälliger Größe, wie man sie im ersten Satz noch nicht ganz durchgehend erleben durfte, während hier auch der kleinteilige Satzschluß noch als Ganzes wirkt.
Das Finale ist ein Prestosatz, und Blomstedt nimmt ihn tatsächlich schnell, ohne aber etwas zu überhasten, und damit klingen etwa die Holzsoli lebendig und nicht hektisch. Kontrastraum zwischen Tutti und Soli bleibt trotzdem noch genug, und auch den Fakt, dass die Tutti anfangs leicht zu trompetenlastig ausfallen, bekommt der Dirigent noch in den Griff und liefert eine lehrbuchreife Dynamikschichtung bis zum Satzende. Zahlreiche Bravi und stehende Ovationen belohnen Orchester und Dirigent, und der Applaus ist so ausdauernd, dass Erben abermals sehr lange sitzenbleibt und einen letzten Vorhang für Blomstedt gewährt, obwohl sich die ersten Kollegen schon die Masken aufsetzen und sich zum Abtritt rüsten. Verdient hat’s der große Schwede allemal.


Roland Ludwig



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