Transparenz ja, Transzendenz nein: Andris Nelsons und das Gewandhausorchester spielen Bruckners Achte im akustisch umgestalteten Großen Saal des Gewandhauses




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 06.09.2019

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Marco Borggreve

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

In der sommerlichen Spielzeitpause 2019 hat die Bühne des Großen Saales im Gewandhaus den ersten von zwei Teilen einer umfassenden Rekonstruktion erfahren, und zu Beginn der Saison 2019/20 kann man davon auch schon etwas sehen. Die anders geformten neuen Hubpodien im hinteren Bühnenteil bemerkt man dabei vielleicht erst auf den zweiten Blick, aber die Schallverteilungselemente an den Bühnenwänden, die dafür sorgen sollen, dass sich die Musiker untereinander besser hören, fallen durchaus schnell ins Auge und erzeugen die interessante Frage, ob sie sich möglicherweise auch auf den Höreindruck im Saal auswirken – vorab kann man ja die kompliziertesten akustischen Berechnungen anstellen, aber die Wahrheit liegt sozusagen auf dem Platz, also im Konzert mit einem gefüllten Besucherraum. Peter Korfmacher von der Leipziger Volkszeitung, der das Saisoneröffnungskonzert rezensierte, meinte, dass sich gerade der Baßsound im Zuschauerraum durchaus verstärkt habe – der Rezensent war bei besagtem Konzert mit Werken von Mozart (statt des geplanten Bartók), Debussy und Strawinsky nicht anwesend und erlebt den neuen Klang nun erstmals an diesem Abend.
Auf dem Programm steht Anton Bruckners Sinfonie Nr. 8 c-Moll WAB 108, ein Werk, das vor fast genau einem halben Jahr letztmalig im Großen Gewandhaussaal erklungen ist, gespielt damals allerdings nicht vom Gewandhausorchester, sondern vom MDR-Sinfonieorchester unter Dennis Russell Davies (siehe Rezension auf diesen Seiten). Der hatte damals die Erstfassung von 1887 aufs Programm gesetzt, während beispielsweise Herbert Blomstedt für seine Abschiedskonzerte als Gewandhauskapellmeister anno 2005 die Fassung von Robert Haas wählte, die Elemente beider Fassungen kombiniert. Blomstedts Nach-Nachfolger Andris Nelsons (Foto) wiederum entscheidet sich für die Zweitfassung von 1890 in der von Leopold Nowak herausgegebenen Edition – jene Fassung hatte auch Franz Welser-Möst im Dezember 2016 angesetzt, als er das Gewandhausorchester als Gast dirigierte, aber der Rezensent hat diese Konzerte nicht miterlebt und auch Nelsons in anderen Kontexten noch nie mit dieser Sinfonie erlebt, so dass er also keine Direktvergleiche ziehen kann.
Zunächst überrascht die Aufstellung des Orchesters. Davies hatte damals die Hornisten (also die vier planmäßigen und die vier, die sich bedarfsweise in Wagnertubisten verwandeln) nach rechts hinten gesetzt und somit alle Blechbläser rechts hinten vereint – Nelsons tut das in analoger Weise, aber natürlich spiegelverkehrt, da das Gewandhausorchester von Haus aus ja in anderer Anordnung spielt als das MDR-Sinfonieorchester (ersteres in sogenannter deutscher, letzteres in amerikanischer Sitzordnung). Die je drei Trompeter und Posaunisten sowie der Tubist rücken also nach links hinten, hinter die Hornisten und Wagnertubisten. Diese Sitzordnungsänderung sollte also planmäßig nichts mit dem neuen Bühnensound zu tun haben, den es bei Davies im März 2019 ja noch gar nicht gab, sondern rekurriert auf die ungewöhnliche Besetzung des Werkes. Seltsamerweise sitzt der Rezensent auch noch beide Male jeweils diagonal gegenüber den Blechbläsern – und doch gibt es markante Soundunterschiede, die abermals nichts mit dem neuen Bühnensound zu tun haben: Der Schall der Wagnertubisten geht aus Publikumssicht nach links oben, an diesem Abend also nicht in den großen Raum wie im März, sondern in Richtung der linken Außenwand, und das führt zu völlig eigenartigen Klangwirkungen, wenn man diese Klänge nicht von der Bühne, sondern von links hinten wahrzunehmen glaubt. Auf der Bühne sind jetzt allerdings auch alle Baßinstrumente links vereint, vom Kontrafagott mal abgesehen, und auch das könnte Klangunterschiede hervorrufen, so dass vorläufig noch keine Aussage zum Baßsound im Zuschauerraum möglich ist.
Also hinein ins Geschehen! Der erste Satz, ein Allegro moderato, hebt in für Andris Nelsons ungewohnt geerdeter Weise an – und anderthalb Stunden später staunt man, dass das völlig unerwartet auch der Gesamtmarschplan für die schon bei diversen Konzerten der jüngsten Spätsommertour und auch am Vorabend „zu Hause“ aufgeführte Sinfonie gewesen ist: Transparenz ja, Transzendenz hingegen nein, von einigen Momenten abgesehen. Die Transparenz in den voluminöser besetzten Passagen braucht anfangs im Hauptthema ein wenig, um in den von Nelsons gewohnten Maßen zu agieren, aber das Gefühl, dass die Beteiligten hier zehn Zentimeter über dem Boden schweben, das hat man nur ganz selten, am ehesten in diesem ersten Satz vielleicht im ersten Oboensolo Domenico Orlandos oder in den völlig jenseitig, fast wie ein Fernorchester anmutenden Kontrafagottklängen. Aber ansonsten ist Erdung Trumpf, und das kennt man von Nelsons sonst so gar nicht – aber vielleicht versucht sich auch der Gewandhauskapellmeister erstmal vorsichtig mit dem neuen Bühnensound vertraut zu machen. Was er da freilich rausholt, setzt Maßstäbe, wenn es um die erwähnte Transparenz geht: In den Tutti hört man Dinge, die man nie zuvor wahrgenommen hat und an deren Hörbarmachung die meisten Klangkörper und Dirigenten scheitern. Und hier und da meint man tatsächlich auch einen veränderten Grundklang wahrzunehmen, einen, der etwas mehr in die Breite geht und hörbar Mühe hat, scharfkantig-schroffe Strukturen aufzubauen. Das hätte man im Finale dieses ersten Satzes etwas genauer nachprüfen können, wenn hier die Erstfassung gespielt worden wäre, aber im Gegensatz zu deren Triumphcharakter verlöscht die Zweitfassung im Nichts, und das wiederum gestaltet Nelsons hervorragend, wenngleich ein Huster am Beginn des Abstieges ein Drittel der Gesamtspannung kostet.
Die enorme Klangbreite fällt im Scherzo besonders stark auf: So organisch-fließend bekommt man das markante Hauptmotiv kaum mal zu hören, markantes messerscharfes Gedonner bieten Dirigent und Orchester hingegen nicht mal im letzten Teil vor dem Trio. Dieses wiederum gerät unter Nelsons‘ Händen zu geradezu lieblicher Kammermusik, wenngleich der schräge, fast zirkuskompatible Touch manches Motivs durchaus nicht unter den Tisch fällt. Der Dirigent kann sich hier wieder einmal in eine seiner typischen Haltungen begeben, nämlich scheinbar entspannt mit der linken Hand am Pultgeländer – dass der Schein trügt, wird später deutlich. Der Mittelteil des Trios kratzt dann doch wieder ein wenig an der Transzendenz, während die Scherzo-Wiederholung ähnlich in die Breite geht wie der erste Teil, wobei das Finale aber doch etwas zackiger gerät. Randbemerkung: Das gemeinsame Zurückblättern in den Noten durch die Musiker vor der Scherzo-Wiederholung hört man im Publikum gefühlt lauter als zuvor.
Dass das halbstündige Adagio von Nelsons einer sehr behutsamen Formgebung unterzogen würde, war klar, aber auch hier überrascht der gefühlt in die Breite gezogene Klang vor allem der Streicher. Mit der düsteren, aber nicht niederschmetternden Wirkung trifft der Dirigent die im Satztitel verbriefte Intention des Komponisten zumindest partiell, und in das bedächtige Tempo legt er einen unterschwelligen Zug nach vorn, der das Verschleppen nachhaltig verhindert. Vor allem im Wagnertubenchoral fällt der eingangs beschriebene Effekt auf, dass das Gehörte scheinbar aus einer ganz anderen Richtung kommt, und in den Tutti glaubt man plötzlich den Organisten Bruckner durchscheinen zu hören, wie er die Registrierkunst an der Orgel aufs Orchester überträgt, und man schielt verstohlen nach oben zur Orgelbank, ob dort nicht doch jemand sitzt. An den Verharrungen hat man das übliche Gefühl, Nelsons ziehe den Musikern die Töne förmlich aus der Nase, um die Wirkung an dieser Stelle noch zu verstärken – dass die großen Tutti hier bisweilen minimal nach hinten versetzt kommen, spricht Bände, und das gelingt auch, ohne dass der Dirigent seine in dieser Situation übliche, aber auf Dauer rückengefährdende 90-Grad-Krümmung des Körpers vornimmt. Das zwischen die beiden markanten Beckenschläge eingepaßte letzte Tutti wiederum besticht abermals durch die beschriebene erstaunliche Klarheit, während der Dirigent den plänkelnden Schlußteil unerwartet distanziert und ohne große Spannung auf den Boden der Tatsachen stellt.
Im Finale staunt der Hörer dann wieder die berühmten Bauklötze, wenn er im Tutti plötzlich Dinge hört, die er noch nie wahrgenommen hat – entsteht der fast polyrhythmische Eindruck hier vielleicht, weil man plötzlich die Streicher hört? Wie auch immer – die hier deutlich zerklüftetere Struktur nimmt Nelsons abermals überraschenderweise nicht als Option für eine große Dosis der noch im Adagio reichlich vorhanden gewesenen Spannungsauflösungsverzögerungen, sondern setzt solche nur sparsam als gezieltes Stilmittel ein. Erstaunlicherweise wirkt das Orchester noch nicht „warmgespielt“, so dass nicht alle Einsätze paßgenau klappen, aber dafür funktioniert der Energietransport tadellos. Was hier freilich mit einer Ausnahme komplett verschwindet, ist die Transzendenz – Nelsons hält die Musiker abermals auf der Erde, was schräge Elemente wie die herrlich pseudowienerischen Elemente nach dem großen Baßquartenzusammenbruch selbstverständlich nicht ausschließt. Und dass die Innendynamik des Satzes stimmen würde, davon war auszugehen, und der Dirigent leitet selbst einige der markanten Steigerungen noch in der Haltung mit der linken Hand am Gitter, ohne dass die Orchesterspannung darunter leiden würde. Die erwähnte Transzendenz-Ausnahme ist der letzte Wagnertubenchoral – freilich auch nur, weil man ihn wieder aus einer anderen Richtung und von ganz oben zu kommen wähnt. Das Finale besticht abermals durch immense Transparenz bei unverändert gewaltigem Energietransport – nur seltsamerweise ohne jeglichen Anflug von Spannung: Nach ausgiebigem Schlußgedonner ist das Werk irgendwann einfach zu Ende, Nelsons‘ Arme sinken einige Sekunden später nach unten, und lauter Jubel bricht los – verdientermaßen, wenn man die Gesamtdarbietung betrachtet, und trotzdem ist der Hörer ein wenig verwirrt, wie wenig die Aufführung teilweise der Erwartungshaltung entsprochen hat. Was davon konkrete Nelsons’sche Strategie in der Auseinandersetzung mit Bruckners Achter war und was durch die neuen Soundverhältnisse zustandegekommen ist, das müssen weitere Konzerterlebnisse beantworten. Der Freitagabend geht, nachdem der Pauker bei der Stimmgruppen-Einzelvorstellung den meisten Applaus bekommen hat, emotional zu Ende: Kontrabassist Thomas Strauch hat an diesem Abend seinen letzten Auftritt mit dem Orchester gespielt, geht nach 37 Jahren in den Ruhestand und wird herzlich verabschiedet.


Roland Ludwig



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