Musik an sich


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Kassia (Popp)

Kassia. Byzantinische Hymnen der ersten Komponistin des Abendlandes


Info
Musikrichtung: Frühmittelalter Ensemble

VÖ: 01.09.2009

(Christophorus / Note 1 / CD / DDD / 2009 / Best. Nr. CHR 77308)

Gesamtspielzeit: 45:08



DIE ERSTE

Wenn alle abgelegenen musikalischen Quellen ausgeschöpft scheinen, taucht aus dem Dunkel der Vergangenheit meist doch noch eine weitere auf. Lange Zeit schien das musikgeschichtliche Thema „früheste überlieferte Komponistin des Abendlandes“ mit der Entdeckung und Einspielung der Werke der Hildegard von Bingen umfassend behandelt. Dabei reüssierte eine byzantinische Adelige mit Namen Kassia im 9. Jahrhundert, also gut dreihundert Jahre vor Hildegard als Dichterin und Komponistin geistlicher Musik. Beinahe wäre Kassia Kaiserin geworden, machte dann aber als gelehrte Äbtissin eine für damalige Verhältnisse sehr viel selbstbestimmtere Karriere.
Ihr Scharfsinn, so wird berichtet, brachte sie um die Krone. Als der junge Kaiser Theophilos während der Brautschau die launige Bemerkung fallen ließ, dass die Frauen doch für sehr viel Übel in der Welt der Grund gewesen seien (in Gestalt der sündigen Eva) entgegnete sie schlagfertig, dass sie doch ebenso die Ursache für viel Gutes wären (in Gestalt der Gottesmutter Maria). Der Kaiser war düpiert, seine Wahl fiel auf die schweigsame Theodora.

Kassia verließ einige Zeit nach dem Vorfall den Hof und gründete ein Kloster. Sie komponierte zahlreiche geistliche Werke, zumeist griechische Hymnen zur Ehre diverser Heiliger. Von den 50 ihr zugeschriebenen Stücken hat das Ensemble VocaMe jetzt erstmals 18 eingespielt.
Es bleibt immer etwas spekulativ, wie diese Musik geklungen hat. Unter der Leitung und instrumentalen Mitwirkung von Michael Popp machen die sechs Sängerinnen von VocaMe das einzig Richtige: Statt einen fiktiven byzantinischen Einheitsstil zu postulieren (den es so wahrscheinlich auch gar nicht gab), schöpfen sie das Spektrum des historisch Möglichen aus und präsentieren die Stücke Kassias in abwechslungsreichen Arrangements.
Der Schwerpunkt liegt auf dem Vokalen. Das Damensextett singt schlackenlos und zugleich glutvoll. Diverse Zupf- und Streichinstrumente setzen dazu ein sparsames Kolorit und verorten die Musik stilistisch stimmig zwischen Orient und Okzident. Zu den einstimmig notierten Stücken werden parallel gehende weitere Stimmen improvisiert oder es werden ihnen Borduntöne unterlegt, was die interne Dramatik noch einmal steigert. Viertel- und Gleittöne sowie delikate Ornamente sorgen für harmonische Schwebungen, die das Trommelfell angenehm zum Vibrieren bringen.
Dies alles geschieht nicht, um die Musik interessant zu machen, sondern um ihre vorhandenen Qualitäten zu unterstreichen. Kassias Stil ist herber und deklamatorischer als derjenige Hildegards, auch gelehrter, was sich an vielen Details zeigen lässt, aber nicht weniger ausdrucksvoll und „mystisch“ (was immer man immer man mit diesem Attribut im Einzelnen verbinden mag).

Die Aufnahme erscheint in ansprechender Aufmachung mit ausführlichen, mehrsprachigen Begleittexten. Gerne hätte man noch gewusst, welche Quellen herangezogen wurden. Auch ein authentisches Notenbild wäre von Interesse gewesen. Und über die „zahlreichen Instrumente“, die Popp spielt, schweigt sich das Beiheft ebenfalls aus.



Georg Henkel



Besetzung

VocaMe

Michael Popp: Leitung und diverse Instrumente
Johann Bengen: Santur



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