Musik an sich


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LIGETI-LUXUS





Was lange währt, wird endlich gut. Über mehrere Jahre war dieser mehr als 800-Seiten starke Doppelband – die Nr. 10 in der Reihe „Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung“ – schon angekündigt. Ihr Autor, Györgi Ligeti, ist im vergangenen Jahr gestorben und hat die Veröffentlichung leider nicht mehr erleben können. Nun aber: Die Gesammelten Schriften eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhundert in einer derart formidablen, ästhetisch ansprechenden zweibändigen Ausgabe in der Hand zu halten, ist schon ein Luxus. Dabei erweist sich Ligeti als Musikschriftsteller kaum weniger ansprechend und anregend denn als Komponist. Das gilt nicht nur für seine Analysen und Darstellungen zur Musik des 20. Jahrhunderts, sondern erst recht für die Kommentare zu den eigenen Werken. Die suggestiven, sehr bildkräftigen Ausführungen sind alles andere als trockene Kost, die auf ein dürres Musikerlebnis bloß einen theoretischen Überbau draufsetzten. Ligeti, der sich immer wieder (und vielleicht auch etwas kokett) als Nicht-Intellektueller bezeichnete, verzichtet auf eine esoterische oder technizistische Neue-Musik-Terminologie, die bei schwächeren Werken meistens nur ersetzten soll, was dem Ohr vorenthalten wird: ein starkes ästhetisches und sinnlich-poetisches Erlebnis.

Ligetis Musik zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie aus sich heraus stimmig ist und den Hörer auch da in ihren Bann schlägt, wo sie, wie im späten Klavierkonzert, an die Grenzen des Ausführbaren und Aufnehmbaren geht. Seine Darlegungen vertiefen und verdeutlichen zunächst einmal das, was man an seinen Kompositionen auch so wahrnehmen kann: fantastische filigrane Netzwerke aus sich verwandelnden Klangflächen und –räumen oder vertrackten rhythmischen Strukturen, exotische Stimmungssysteme und Klangfarbenmagie, aber auch skurrilen Witz und kunstvollen Nonsense. Kurz: musikalische Zusammenhänge, die sich dem Ohr auch als solche erschließen.
Dabei können Ligetis Erläuterungen auch für sich bestehen. Denn so schillernd und assoziationsgesättigt wie Ligetis Musik ist auch seine Schreibe über die Musik. Dass in den prägnant formulierten Darstellungen eine Verführung liegt, in der Musik dann nur noch die vom Komponisten gelegten Spuren zu verfolgen und gleichsam mit seinen Ohren zu hören, hat schließlich auch Ligeti bewogen, mit Erklärungen zurückhaltender zu sein.
Es wurden nicht nur zahlreiche Programmtexte Ligetis zu Uraufführungen oder Wiederaufnahmen aufgenommen, sondern auch all jene Erläuterungen, die der bei Sony und Teldec erschienenen Ligeti-Edition beigegeben sind. Zu vielen Werken gibt es also mehr als eine Fassung, was die Perspektive trotz mancher inhaltlichen Doppelungen vertieft. Rund 200 Seiten umfasst allein dieser Kommentar-Teil im 2. Band.
Nicht weniger spannend sind dort die biographischen Ausführungen und ästhetischen Positionsbestimmungen; man gewinnt Einblicke in die Werkstatt des Komponisten, die von ihm entwickelten Verfahren und vielfältigen Anregungen, die sein Schaffen befruchtet haben. Ligetis Schriften sind in dieser Hinsicht auch ein gutes Stück Musikgeschichtsschreibung des ästhetisch manchmal nachgerade orkanbewegten 20. Jahrhunderts.

Der über 500 Seiten starke 1. Band enthält dagegen alle maßgeblichen Veröffentlichungen des Komponisten zur Neuen Musik oder zu einzelnen Komponisten. Es sind Gelegenheitswerke wie die Kommentare und Selbstdarstellungen, darum aber nicht weniger lesenswert. Herzstück bilden die redaktionell überarbeiteten Manuskripte einer mehrteiligen Radioreihe zu Anton Webern, die in Summa eine konzentrierte Monographie dieses Stammvaters der „Musik nach 1945“ ergeben.
Die weitgesteckten musikalischen Interessen des Komponisten spiegeln zahlreiche Einzelbeiträge, unter anderem zu Bela Bartok, Gustav Mahler und Charles Ives (Collagetechnik!), den Dissonanzen in Mozarts Streichquartett KV 465, der amerikanische Minimal Music, Harry Partchs Mikrotonalität sowie John Cage (der hier wesentlich freundlicher wegkommt als in dem Interview-Band „Träumen Sie in Farbe?“). Natürlich darf ein zentraler Text wie die Analyse von Pierre Boulez’ Structure Ia für zwei Klaviere, eine bis in die letzten Verästelungen der Komposition vordringende Kritik der Seriellen Musik, nicht fehlen.

Einige dieser Beiträge waren bislang schwer zugänglich; anderes hat der Komponist redigiert und jetzt in endgültiger Fassung freigegeben. Manches wurde auf Ligetis Wunsch von seiner Herausgeberin überhaupt erst in Schrift-Form gebracht, z. B. die ursprünglich nur als Gespräch vorliegenden Ausführungen über Claude Vivier. Dem Wunsch, auch sämtliche Interviews mitaufzunehmen, konnte man im Rahmen der umfangreichen Edition leider nicht entsprechen – das Volumen wäre auf das Doppelte angewachsen. Hier ist in der Tat eine Fortsetzung wünschenswert, da der funkelnde Geist Ligetis im direkten Gespräch noch deutlicher hervorblitzt.
Die Herausgeberin Monika Lichtenfeld führt in einem 40seitigen Essay kompetent in das musikalische und literarische Oeuvre Ligetis ein. Die beiden Bände sind hervorragend ediert, ansprechend illustriert und werden durch ein Literaturverzeichnis („nicht aufgenommene Schriften und Interviews“) sowie ein umfassendes Personen- und Werkregister umfassend erschlossen.
Eine Fundgrube!


Georg Henkel



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