Musik an sich


Reviews
SINFONISCHER TRIP: JANSONS DIRIGIERT MAHLERS SECHSTE
Gustav Mahler (1860-1911): Symphonie Nr. 6 a-moll, "Tragische"
LSO Live CD 2 DDD (AD 2002, live) / Best. Nr. LS00038

Nachromantik
Cover
Interpreten:

London Symphony Orchestra
Ltg. Mariss Jansons

Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: ++++

DAS UNGELÖSTE RÄTSEL

Mahlers sechste Symphonie, die den Beinamen "Die Tragische" trägt, hat seit jeher zu Spekulationen und Interpretationen reichlich Anlass geboten. Manch einer entdeckte in dem sperrigen, 80minütigen Werk in erster Linie biographische Züge, andere stilisierten Mahler zum Propheten der Weltkriege.
Sicher ist nur, dass dieses Stück in brillanter Weise mit Hörerwartungen spielt und wie kaum ein anderes zwischen den Extremen pendelt. Eben noch vermeint man Heimatfilm-Untermalung zu hören, dann schon wieder die Musik zu einem Science-Fiction-Streifen, plötzlich erklingt ein Trauermarsch, der sich unversehens in einen zackigen Militärmarsch verwandelt. Das alles bricht in unglaublicher Dichte über den Hörer herein. Der Einsatz exotischer oder bizarrer Instrumente wie Celesta, Hammer, Kuhglocke und Peitsche tut ein übriges, um ihn nachhaltig zu verwirren und von einer Stimmung in die andere zu stürzen. Ruhepausen oder Ecken, in denen man sich behaglich einrichten könnte, gönnt der Komponist seinen Zuhörern kaum.

So ist eben der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Hörerfahrungen des Publikums bei einer Aufführungen bringen läßt, die Irritation. Denn welche emotionalen Abgründe und Ausnahmezustände, welche Bilder, Assoziationen und Erinnerungen die Musik wachruft, das ist bei jedem anders und auch die gleiche Person mag das bei jedem Hören immer wieder neu erleben. Die Musik entzieht sich einer endgültigen Festlegung und der Einengung auf ein bestimmtes Programm. Was aber - sofern die Symphonie gut gespielt wird - immer gewährleistet ist, sind aufwühlende Momente und geradezu vegetativ spürbare Veränderungen: Musik als bewußtseinsverändernde Droge ...!?

SANFTER BEGINN, STETER ANSTIEG

Es mag sein, dass Mahlers Gedankenwelt, die oftmals auch vom rauschhaften Erleben jener Berglandschaften bestimmt ist, in denen er komponierend seinen Urlaub verbrachte, den litauischen Dirigenten Mariss Jansons (seit September Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks) veranlaßt hat, die Symphonie als eine Art steten Anstieg zum Finalgipfel zu interpretieren. So läßt er das Werk geradezu sanft beginnen und reizt das aggressive Marschthema nicht sogleich voll aus. Der Vorteil dieses Ansatzes wird erst später deutlich: Weil auch im dritten und vierten Satz an dieses Thema angeknüpft wird, bleibt genügend Spielraum, um die Musik immer noch einmal zu steigern. Damit gelingt es Jansons, den Spannungsbogen trotz der Länge des Werkes kontinuierlich aufrecht zu erhalten.
Jansons besondere Begabung liegt überdies darin, die mahlerschen Extreme ganz auszuschöpfen, z. B. das scheinbar Banale auch als solches zu präsentieren oder die Einsätze der stets aufs Neue in den Satz hereinfahrenden Einzelstimmen zu schärfen und hervorzuheben. Unter seiner Leitung läuft dann auch das London Symphony Orchestra zur Höchstform auf: Pointiert, mit nie nachlassender Konzentration und Perfektion hat es in diesem Konzert-Mitschnitt vom November 2002 einen Mahler der Extra-Klasse abgeliefert.

DRITTER UND VIERTER SATZ ALS GLANZPUNKTE

Dank der erläuterten Steigerung geraten schließlich der dritte und vierte Satz der Symphonie zum Höhepunkt dieser auch klangtechnisch hervorragend ausbalancierten und sehr plastischen Einspielung. Das Scherzo, das Jansons entsprechend der späteren Entscheidung Mahlers an dritter, nicht an zweiter Stelle spielen lässt (was im übrigen auch die überzeugende Lösung darstellen dürfte), gerät bereits zu einem furiosen Erlebnis. Der ganze Orchesterapparat scheint bei diesem Satz, der ohnehin auf dem schmalen Grad zwischen Groteske und Chaos wandelt, in Aufruhr zu geraten.
Noch überzeugender gelingt die Synthese sämtlicher Themen und Ideen dieser Symphonie im Schlusssatz. Kraftvoll, niemals platt und bis ins nebensächliche instrumentale Detail sorgfältig gestaltet beweist Jansons, dass er in diesem Jahr zu Recht den renommierten Mahler-Schallplattenpreis "Toblacher Komponierhäuschen 2003" erhalten hat (In Toblach verbrachte Mahler bevorzugt seine Urlaube und nistete sich dort zum Komponieren in einer abgeschiedenen, kleinen Hütte ein). Den Preis gabs zwar für einen Mitschnitt der 9. Symphonie, aber auch diese jetzt vorgelegte Live-Aufnahme der 6. ist absolut preisverdächtig.

Apropos Preis: Da LSO Live knallhart kalkuliert und nur der Eigenvermarktung des Orchesters dient, sind die CDs dieses Labels durchgehend relativ preiswert. Diese Doppel-CD ist derzeit für nur rund 10 Euro im Handel erhältlich. Daher: Hingehen, kaufen, berauschen - billiger gibt´s einen solchen 80 Minuten-Trip sonst nirgends!

19 Punkte

Sven Kerkhoff

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