Rzewski, F. (Nuss, B.)

United! (Klavierwerke)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Klavier

VÖ: 26.08.2022

(Berlin Classics / Edel Kultur / 2 CD / DDD / 2021-2022 / Best. Nr. 0302804BC)

Gesamtspielzeit: 121:04



DIE GROSSE DREHSCHEIBE

Arbeitersongs, linksrevolutionäre Kampflieder, Volksmelodien, Blues und Jazz – vielfältig sind die populären Quellen, die der 2021 verstorbene amerikanische Komponist Frederic Rzewski in seinen Kompositionen verarbeitet hat – ganz zeitgenössisch und neutönerisch, dabei aber stets mit mindestens einem Ohr auch bei der Zuhörerschaft.
Als herausragender Pianist verstand er sich darauf, diese charakteristische Synthese aus verschiedenen Stilen perfekt auf das Klavier und seine Möglichkeiten zuzuschneiden und seine Musik gleichsam zur großen Drehscheibe zu machen, auf der alles zusammenfindet, was sonst getrennt musiziert (oder eben, im übertragenen Sinne, „marschiert“).

Insbesondere sein Variationenzyklus „The People United Will Never Be Defeated“ von 1975 ist ein epochales Werk, durchaus ein Gegenstück zu den „Diabelli-Variationen“ Beethovens oder auch Bachs Goldberg-Variationen. Es hat sich gerade unter postmodernen Bedingungen zu einem Repertoirestücke entwickelt und (neben Rzewski selbst) eine Reihe von prominenten Interpreten zur Auseinandersetzung gereizt hat, u. a. Marc-André Hamelin und zuletzt noch Igor Levit. Entsprechend groß ist auch das Angebot an guten Aufnahmen.
Mögen die linkspolitischen Motive von Rzewskis Schaffen auch in den Hintergrund getreten sein: Seine Musik hat sich ihre mal spröde, mal mitreißende Eingängigkeit und aufrührerischen Kitzel bewahrt. Kaleidoskopartig wird das auf Sergio Ortega zurückgehende Kampflied „El pueblo unido jamás será vencido“ allen möglichen neutönerischen Metamorphosen unterzogen. Sie schließen debussyartige Zartheit, Aggressiv-Perkussives à la Stravinsky, jazzige Unbekümmertheit, minimalistische Pattern-Pulsation und trocken-konstruktivistische Abstraktion gleichermaßen mit ein – um nur einiges zu nennen, was in den 36 Variationen anklingt.
Das zugrundeliegende Lied bleibt dabei zumindest immer erahnbar. Die Vereinigung der verschiedenen musikalischen Welten markiert jene Einigkeit, die sich allen unterdrückerischen, ausbeuterischen Mächten wenn nicht siegreich, so doch selbstbewusst und mutig entgegenstellt. Wobei Rzewski sich der Utopie seiner Vision durchaus bewusst war. Man müsse einfach komponieren, so als könne man damit tatsächlich etwas verändern!

Am Ende hält sich dieses Werk ebenso wie die auf diesem Album eingespielten und vergleichbaren „North American Ballads“ sowie das Variationenwerk „Mayn Yingele“ deshalb, weil die Stücke genügend Substanz haben und musikalisch überzeugen.
Zumal sich der Interpret, der junge Pianist Benyamin Nuss, nicht hinter seinen älteren Kollegen verstecken muss. Dieser Künstler bewegt sich technisch ohne Mühe und musikalisch ganz selbstverständlich in der polyglotten und polystilistischen Welt dieser Werke, wohl auch, weil er selbst von Videospielsoundtracks bis Liszt eine bemerkenswert breites Repertoire pflegt. Das Jazzige liegt ihm da ebenso gut in den Fingern wie vollgriffige Akkordik und atemberaubend flinke Tastentänze. Denn die fordert Rzewski ebenso wie zeit- und schwerelos schwebende Töne.

Nuss hält diese Musik-Kosmen souverän zusammen, lässt die Rzewskische Drehscheibe rotieren, ohne von den mitunter hohen Fliehkräften weggerissen zu werden.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1
North Amercia Ballads
Mayn Yingele

CD 2
The People United Will Never Be Defeated
Besetzung

Benyamin Nuss, Klavier


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