Zacara da Teramo (Pasotti, M.)

Enigma Fortuna


Info
Musikrichtung: Mittelalter/Renaissance Vokal/Ensemble

VÖ: 02.09.2021

(Alpha / Note 1 / 4 CD / DDD 2017-2018 / Best. Nr. Alpha 640)

Gesamtspielzeit: 237:00



KÜHNHEIT UND PHANTASTIK

Eine Figur wie aus einem Mittelalter-Roman von Umberto Eco: Antonius di Berardo di Andrea, besser bekannt unter seinem Spitznamen Zacara da Teramo (und diversen Varianten dieses Namens) wurde zwischen 1350 und 1360 in der gleichnamigen Abruzzen-Stadt geboren und starb zwischen 1413 und 1416, wahrscheinlich in Bologna.
Zacara war ein Skriptor und Illuminator von Handschriften, was erstaunlich ist, fehlten ihm doch die Hälfte seiner Finger (und Zehen). Und er war ein außergewöhnlicher Komponist, dessen enigmatische und oft bizarrschön klingenden musikalische Schöpfungen so andersartig gestaltet sind, dass man schon von einem „Personalstil“ sprechen muss.
Zacara da Teramo stand im Dienst mehrerer kunstbegeister und mitunter ziemlich dekadenter Päpste, in der Zeit des großen abendländischen Schismas, wo mehrere gleichzeitige Pontifexe um die Vorherrschaft über die katholische Kirche stritten. Seine Kompositionen reflektieren in ihrer anspielungsreichen Wortakrobatik wie auch ihrer musikalischen Komplexität die religionspolitischen Erschütterungen und den esoterischen Kunstwillen seiner Zeit. Darüber hinaus schaffen sie, frei nach Hieronymus Bosch, eine Art „Musikalischen Garten der Lüste“, ein üppig blühendes Klang-Labyrinth für Kenner und Liebhaber der Extravaganz, bei der Himmlisches, Irdisches und Höllisches sich ebenso generös wie augenzwinkernd vermischen.

Die Kühnheit und Phantastik von Zacaras Kompositionen zeigt, dass Neue Musik nicht altert, wenn sie gut ist. Sie klingt zu jeder Zeit neu. Zacaras Werke sind in diversen Manuskripten und Sammlungen überliefert. Vor allem Teile des Messordinariums – Gloria und Credo – finden sich gleich mehrfach, dazu eine Vielzahl weltlicher Stücke, überwiegend sogenannte „Ballata“, kunstvolle Lieder für zwei oder drei Stimmen. Sicherlich ist auch vieles verloren gegangen. Manches wurde erst jüngst durch digitale Verfahren aus Palimpsesten zurückgewonnen und das eine oder andere bedurfte der behutsamen Rekonstruktion, um verlorene Stimmteile zu ergänzen.

Dieser Komponist muss eine selbstbewusste Persönlichkeit gewesen sein. Wenn er Musik überarbeitet oder zitiert, dann grundsätzlich seine eigene. Sogar ein kleines Porträt gibt es von ihm, das die seltsam verstümmelten Hände deutlich erkennen lässt. Aber welcher Komponist, bitte schön, würde sich wohl erkühnen, für das Glaubensbekenntnis einer Messe, das den dreifaltigen christlichen Gott ehrt, genau dieselbe Musik zu verwenden, mit der er in einem weltlichen Stück den „Deos Deorum Pluto“, den Fürsten der Unterwelt, nicht weniger andächtig preist? Zumal man der Musik in beiden Fällen ihre diabolischen Schrägheiten und Spitzfindigkeiten sehr wohl anhört? Wenn man sich freilich die Wasserspeier an Notre Dame und anderen gotischen Kathedralen anschaut, weiß man, dass eine solche umfassende verschränkte Sicht der Dinge im Mittelalter nicht ganz ungewöhnlich war. Im besagten „Credo“ wird das „et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ von den Oberstimmen in höchster Lage regelrecht herausgeschmettert – ist das ein pompöser Fanfarenstoß oder greller Sarkasmus angesichts der realen damaligen alles andere als himmlischen Zustände in der „mater ecclesia“?

In Zacaras Kompositionen, den weltlichen zumal, findet sich ein geradezu synästhetisches Spiel mit Lautmalereien und Klängen, gerne in dramatischer Manier aufbereitet in Form von Dialogen oder mehrtextigen Passagen. Das tun auch andere Komponisten dieser Zeit, doch so, wie das hier geschieht, wirkt es wirklich ungemein modern. Zacara hatte offenbar ein großes Interesse an metrischen und rhythmischen Experimenten, schreibt ständige Wechsel vor, schiebt rasch bewegte Notengruppen in langsame Passagen ein und erfreut sich überhaupt an virtuosen Ausschweifungen.
Möchte er damit Einblicke in das kosmische Räderwerk einer nach mathematischen Proportionen geordneten Schöpfung geben? Oder geht es schlicht um die Unberechenbarkeit des Schicksals, dem der Komponist sein Werk entgegenhält: „Hört her!“? Seine Architekturen verwandeln sich ständig und seine Musik erinnert mehr an üppiges Ranken- und Blütenwerk, das ständig neue Triebe in unerwartete Richtungen hervorbringt, so wie das Leben selbst. Ein tänzerischer Puls mit manchmal ausgeprägt deklamatorischer Stimmführung treibt die Stücke an, während sich die einzelnen Phrasen eher kurzatmig entwickeln. Das gibt er Musik etwas Kleinteiliges, Zerklüftetes – beim Hören durchaus eine Herausforderung!
Doch neben dem Vertrackten findet sich immer wieder eine subtile melodische Schönheit, schwebende Filigrane aus ein, zwei einander umkreisenden Stimmen (insbesondere auf der zweiten CD weltlicher Musik) – der Komponist aus Teramo beherrschte viele Register, der ironische „Plutonist“ konnte mit Engelszungen singen! Anders als bei der Musik vieler seiner Zeitgenossen nimmt man bei ihm keine Begrenzungen innerhalb der – für heutige Verhältnisse – beschränkten Mittel war. Kein Gloria klingt wie das andere, jedes Lied erscheint als ausgereifte Miniatur und zugleich als Experiment, mit dem etwas Neues ausprobiert wird.

Das Ensemble „La Fonte Musica“ hat unter der Leitung von Michele Pasotti eine Glanzleistung vollbracht und dieses bislang nur in Interpretationen einzelner Stücke vorliegende Oeuvre in einer Gesamteinspielung zusammengestellt. Damit kein Gran von Zacaras wohlkalkulierter Exzentrizität verlorengeht und die individuelle Physignomie jedes Stückes zur Geltung kommen kann, haben sich die Interpreten für eine wechselnde gemischte Besetzung mit vokalen und instrumentalen Stimmen entschieden. Wobei der vokale Part stets im Vordergrund steht, die instrumentalen Farben dienen überwiegend der Grundierung und Akzentuierung, präsentieren sich allerdings ohne Stimmen in einigen Interludien, die das Programm auflockern.
Ein vibratoloser, zeichnerischer Angang mit klarer, gleichwohl intensiv klingender Durchformung aller Stimmen und genau justierter Dynamik sorgt dafür, das Zacaras Kunst plastisch Gestalt gewinnt. „Zusatzstoffe“, um die Musik „interessanter“ zu machen, sind nicht erforderlich, es reicht, die Obertöne mitschwingen zu lassen. Bewunderungswürdig sind die Präzision und Intonationssicherheit, mit der dieser schwierige Musik scheinbar mühelos dargestellt wird. Die vielen humorvollen, szenischen Momente werden durch stimmschauspielerische Einsätze akzentuiert – hier glaubt man sich mitunter bereits in einer musikalischen Commedia dell’arte viel späterer Zeit! Das englisch-französische Beiheft gibt in mehreren Beiträgen fundiert Auskunft und enthält auch alle Textvorlagen, allerdings keine deutschen Übersetzungen.

Dies ist sicherlich eine Edition, der man gleich an ganzes Buch an die Seite stellen möchte, mit Abbildungen der originalen Handschriften wie auch der modernen Übertragungen und noch mehr Erläuterungen zu den interpretatorischen Entscheidungen – bereits bei Zacara da Teramo verbinden sich ja die verschiedensten Künste zu einem multimedialen Ganzen.
Insgesamt ein Meilenstein!



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 und 2: Geistliche Musik
CD 3 und 4: Weltliche Musik
Besetzung

La Fonte Musica

Michele Pasotti, mittelalterliche Laute und Leitung



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