Rush Hours: Mother’s Cake und Orvo demonstrieren im Kulturbahnhof Jena einen jeweils individuellen Zugang zum Schaffen der legendären Kanadier




Info
Künstler: Mother’s Cake, Orvo

Zeit: 26.07.2019

Ort: Jena, Kulturbahnhof

Fotograf: Daniel Strub

Internet:
http://www.kuba-jena.de

Zwei Veranstaltungen hat das Kulturbahnhof-Team anno 2019 im Sommer angesetzt (theoretisch drei, aber die Arthur-Brown-Tour wurde komplett abgesagt), einer Jahreszeit, in der in den vorausgegangenen Jahren dort jeweils Sommerpause herrschte. Schrägerweise entpuppen sich beide Abende jeweils als Höhepunkte einer durchs Land rollenden Hitzewelle, sowohl bei Deville Ende Juni (siehe Rezension auf diesen Seiten) als auch nun viereinhalb Wochen später bei Mother’s Cake. Also läuft die Klimaanlage auch diesmal wieder auf Hochtouren, und kalte Getränke sind an der Bar recht gefragt, zumal intensives Lauschen diesmal Pflicht ist, nicht nur, aber gerade für die Rush-Anhänger im Publikum, bekommen sie doch zwei Artverwandte geboten.

Der Supportact schreibt sich Orvo, nicht Orwo, worauf der Sänger das Publikum sicherheitshalber hinweist – die DDR-sozialisierten Anwesenden kennen letztgenannten Terminus ja noch als Markenname der ORiginal-WOlfen-Filme und würden somit beim Googeln auf Irrwege geraten. Das Trio aus Karl-Marx-Stadt, äh, Chemnitz entpuppt sich als eine Art „Rush für die Arbeiterklasse“ und demonstriert, wie das Trio aus Kanada später hätte klingen können, hätte es die leichten Indie-Tendenzen einer Veröffentlichung wie Counterparts konsequent ausgebaut. Natürlich haben wir trotzdem keine Kopie von Lee-Lifeson-Peart vor uns – Orvo versuchen durchaus ihr eigenes Ding zu machen, und das machen sie nicht schlecht und mit einer Prise Underground-Charme. Zunächst oft recht flott, aber trotzdem breakreich zu Werke gehend, nehmen sie in der Setmitte plötzlich markant das Tempo raus und entwickeln unter Hinzugabe einiger bluesiger Elemente einiges an Tiefe, bevor sie mit einem Song namens „Knallerei“ die Schlagzahl wieder erhöhen und mit dem Setcloser „Metern“ noch eine brandneue Komposition auspacken, welchselbige die Rush-Indie-Linie konsequent weiterführt, wobei ihr im Midtempo-Powerpart aber vielleicht noch etwas kräftigeres Riffing als Unterbau zu wünschen wäre, um die Wirkung dieser Passage noch zu erhöhen. Der auch Gitarre spielende Sänger artikuliert sich zumeist in einem leicht nöligen Tonfall (indiekompatibel halt), der ein gewisses Charisma nicht verleugnen kann, der Bassist singt die Backings und geht insgesamt klarer und sauberer zu Werke, sollte also stärker eingebunden werden, falls sich die Band zu einer Weiterentwicklung Richtung klassischer Melodic Rock entschließt. Ihre Wurzeln aber liegen offenbar woanders: Als vorletzte Nummer packen sie nämlich ein Beastie-Boys-Cover aus, und das offenbart einerseits, dass der Sänger als Rapper völlig überfordert ist, andererseits das bisher freundlich-interessiert applaudierende Publikum mit so einer Nummer problemlos in sofortige intensive Bewegung versetzt werden kann, auch wenn die Umsetzung wie erwähnt eher gewöhnungsbedürftig ausfällt und der Song rein stilistisch im Set dieses Abends einen totalen Fremdkörper darstellt. Aber Stimmung macht er eben, wenngleich der hier schön ausgewogene Sound ebenjene Überforderung des Sängers ganz besonders deutlich hervorstechen läßt – in den ersten Songs war das Hauptmikrofon noch ein wenig zu hintergründig abgemischt gewesen, aber jetzt stimmt die Balance. Erwähnenswert bleibt abschließend auch noch die eigenartige Modewahl der beiden Saitenspieler: Der Basser tritt in bordeauxfarbenen Shorts an, der Gitarrist wählte solche in Fleischfarbe, die er auch noch mit einem Hawaiihemd kombiniert. Sachen gibt’s ...

Mother’s Cake sind im Kulturbahnhof Jena weitreichend bekannt und beliebt – sie spielen bereits zum vierten Mal hier und sorgen somit sogar an einem derartig bewetterten Abend für eine gut gefüllte Halle; auch der Rezensent hat sie hier schon einmal live gesehen, nämlich anno 2016 mit Coogans Bluff (Review auf www.crossover-netzwerk.de). Sie liegen aktuell stilistisch übrigens noch einen Tick näher an Rush als Orvo, verarbeiten allerdings auch Einflüsse, an die sich Lee-Lifeson-Peart nie herangewagt hätten, etwa die Disco-Klänge gleich in Song 2, die eher ein wenig in Richtung der Urmutter des Disco Prog, also Pain Of Salvations „Disco Queen“, tendieren, ohne aber wiederum diese Nummer zu kopieren. Ebenjene Einflüsse waren auch schon 2016 zu diagnostizieren, während nun, drei Jahre später, der Funk eine deutlich geringere Rolle spielt als damals und auch das Gros der Led-Zeppelin-Anklänge nicht mehr in diesem Maße vorhanden zu sein scheint. Die Österreicher kochen trotz aller freilich latent immer noch vorhandener Parallelen durchaus ihr eigenes Süppchen, und der auch Gitarre spielende Sänger artikuliert sich in einem vielseitigen Spektrum zwischen sehr hoch, quäkig, expressiv und kontrolliert, wo er zwar gelegentlich an Geddy Lees Stimmfarbe erinnert, häufig aber eben auch nicht. Schrägerweise klingt der Song „Skyscraper“ dann allerdings tatsächlich so, als ob Rush die gleichnamige Nummer von David Lee Roth covern würden. Mother’s Cake starten mit etlichen komplexeren Nummern, später werden sie etwas geradliniger, aber vielleicht ist das auch nur ein subjektiver Eindruck, und das Ohr hat sich besser an das Gebotene gewöhnt. Einige längere Instrumentalausflüge lockern die Songs auf, gerne auch in abstruseren Taktarten, und wenn das Trio eine neue Nummer intoniert, die das Publikum noch nicht kennt, dann herrscht gespanntes Warten, ob bei einer gemeinsamen Verharrung der Song nun zu Ende ist oder doch noch nicht. Die Spielfreude stimmt positiv, der Sänger zählt auch mal in Spanisch ein und befleißigt sich oftmals etwas abwegiger Ansagen, die auch zur bisweilen abwegigen Lyrik passen, selbst wenn diese ein durchaus auch ernstnehmbares Thema behandeln, etwa der reguläre Setcloser „Isolation“ über einen Freund der Band, der von Österreich nach Italien gezogen ist und dort jetzt eben in einer Art Isolation lebt. Die sonst am Merchstand zu findende Blondine zaubert einen ziemlich klaren und ausgewogenen Sound hin, und im Publikum herrscht einige Bewegung und allgemein gute Stimmung, so dass es nicht schwerfällt, die Band nach dem Ende des erwähnten „Isolation“ gegen Mitternacht noch zu einer Zugabe zu überreden, bevor man in die immer noch recht warme Nacht hinausströmt.


Roland Ludwig



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