Musik an sich


Reviews
Berlioz, H. (Gergiev)

Les Troyens


Info
Musikrichtung: Romantik Oper

VÖ: 18.05.2011

(Unitel Classica / Naxos / 2 DVD / live 2010 / Best. Nr. 706008)

Gesamtspielzeit: 261:00



TROJANISCHER FLOP

Was unfreiwillige Komik angeht, so gehört dieser Mitschnitt von Hector Berlioz monumentaler Oper Les Troyens gewiss zu den herausragenden Produktionen des Jahres 2010.
Die DVD-Veröffentlichung aus dem Palau de les Arts Valencia dokumentiert auf fast schon tragische Weise, wie der aufgebotene riesenhafte Kreativapparat, der neben einem internationalen SolistInnenaufgebot Valerie Gergiev am Dirigentenpult und für die Regie das Team von La Fura dels Baus unter Carlus Padrissa zusammengebracht hat, unter dem Gewicht seiner Ambitionen kollabiert.

Dabei ist der Ansatz, der gewaltigen Grande Opera Berlioz' mit einem opulenten inszenatorischen Aufwand gerecht zu werden, doch eigentlich zu begrüßen. Den alten antiken Mythos vom trojanischen Krieg und seinen Folgen popkulturell neu zu deuten und in ein visuelles Referenzsystem moderner Mythen wie Star Wars und Madmax einzubetten, klingt zunächst verheißungsvoll. Dass dann im Zuge dieser Umdeutung aus dem Trojanischen Pferd ganz naiv ein Computervirus wird – was in der Inszenierung freilich nur eine durch Videoprojektionen animierte Behauptung bleibt - und an diesem dünnen Draht eine Totalkritik des Computerzeitalters inklusive der technoiden Perversionen von Eros und Sexus aufzuhängen, ist nicht nur platt, es geht auch schief.

Das liegt zum einen daran, dass die Bildwelt von La Fura und die konventionelle Darstellung auf der Bühne eigentlich nie wirklich zueinander finden – was die besagte unfreiwillige Komik erzeugt. Da wird zu Beginn eine reife Kassandra (Elisabete Matos) im Rollstuhl aufs Schlachtfeld gefahren, um sich dann, man weiß nie so genau wann und weshalb, aus ihrem Gefährt zu erheben und mit der typischen operndivenhaften Gestik und augenrollenden Mimik ihre düsteren Prophezeiungen herauszusingen. Das groteske Kostüm mit gewaltigem Dekolleté wirkt parodistisch, ein Eindruck den man auch sonst gewinnen kann, wenn die mitunter kräftigen Sängerkörper in betont engsitzende Kunststoffverschalungen mit überdimensionalen Applikationen hineingezwungen werden. Und die Gestik und Aktionen, überhaupt die Personenführung, wirken nicht nur bei der Kassandra wie aus einer Standardaufführung der 50er oder 60er Jahre übernommen.
Weil auch die Massenszenen mit Chor meist von einer lähmenden Oratorienstatik sind, bleibt die Inovation in Äußerlichkeiten stecken, die dann schnell gesucht wirken: Die ätherische Arie des Hylus wird als Weltraumflug eines Astronauten à la Kuberik inszeniert, wirkt mit ihren Seilzügen und Apparaten wie aus der Augsburger Puppenkiste aber einfach nur putzig bebildert. Regelrecht peinlich wird es bei den Cybersex-Karikaturen im 4. Akt: das Königreich Karthago als bienenfleißige Sado-Maso-Kultur? Woher kommt das denn bitte? Das Ganze besitzt einen gehörigen Trash-Faktor, der, weil es offenbar ganz ernst gemeint ist, aber so gar keinen Charme entwickelt. Man muss oft lachen – und das ist bei dieser Oper praktisch immer an den falschen Stellen.

Die Musik zieht sich gefühlt viel zu lange hin, woran Valerie Gergievs unnuanciertes, undramatisches Dirigat gehörigen Anteil hat. Er schafft es wirklich, dass dieses kraftvolle Werk wie ein dicker schwerer Opernschinken klingt, wobei er von einigen der Sängern und vom Chor nach Kräften unterstützt wird. Wie man es ganz anders machen kann (nämlich farbig, aufregend, dramatisch, atmosphärisch), hat John Eliot Gradiner mit seiner historisch informierten Produktion gezeigt, bei der Orchester- und Vokalpart aus einem Guss sind und die konventionelle Inszenierung wenigstens beim Thema bleibt.
Bei Gergiev bleibt viel zu vieles von dem, was den Hörer anspringen muss, zu gefällig. Das betrifft nicht nur die Begleitung der Soli. Das Oktett mit Doppelchor aus dem 1. Akt (Laokoon-Bericht) dümpelt dahin. Kaum weniger enttäuschend das Finale des 1. Aktes mit einem gemütlichen Massenselbstmord. Würde die Musik doch nur so erregend rot klingen wie die Kunstblutlachen aussehen, die den Vorhang hinunterinnen (ein starkes Bild, das zeigt, was möglich gewesen wäre)! Die fahle Nachtszene am Schluss des 4. Aktes erreicht das sinnlich-phantastische Niveau der Musik Berlioz ebenfalls nicht.
Während Daniela Barcellona die Didon adäquat verkörpert, prägt den Vortrag des Énée von Lance Ryan ein wenig differenzierter kaltmetallischer Tenorton. Immerhin scheint das tragische Ende der Oper im wenig innigen Liebesduett der beiden schon vorweg genommen. Ähnlich problematisch ist die Besetzung des Chorèbe mit Gabriele Viviani - angesichts der völlig flachen Darstellung könnte man meinen, er singe den ganzen Part auf einer Tonhöhe.
Über das Staunen über so viel Dissonanzen kann man beinahe übersehen, dass die übrigen SängerInnen ihre Sache auch durchaus gut machen, wie z. B. Zlata Bulichevas feinsinnige Anna (überhaupt sind die Damen in dieser Produktionen den Herren überlegen) – würde das lähmende Dirigat von Gergiev sie nicht zu oft zu einem Singen mit angezogener Handbremse zwingen.



Georg Henkel



Trackliste
1Les Troyens 241:00
2 Extras: Dokumentation 21:00
Besetzung

Lance Ryan: Énée
Gabriele Viviani: Chorèbe
Giorgio Giuseppini: Panthée
Stephen Milling: Narbal
Eric Cutler: Iopas
Oksana Shilova: Ascagne
Elisabete Matos: Cassandre
Daniela Barcellona: Didon
Zlata Bulicheva: Anna

Cor de la Generalität Valenciana

Orquestra de la Comunitat Valencia

Valerie Gergiev: Leitung

Carlus Padrissa & La Fura dels Baus: Inszenierung


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