Musik an sich


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Quasimov, A – Traditionelle Musik Aserbaidschans (Quasimov, A. – Quasimova, F.)

Intimate dialogue


Info
Musikrichtung: Traditionelle Musik

VÖ: 01.07.2010

(Dreyer Gaido / Note 1 / CD / DDD live / 2009 / Best. Nr. 21060)

Gesamtspielzeit: 73:40



ERGREIFEND

Durch den Sänger Alim Quasimov ist die traditionelle Musik Aserbaidschans seit vielen Jahren auch im Westen zunehmend bekannter geworden. Der kleine Kaukasusstaat, der von 1922 bis 1990 ein unfreiwilliger Satellit des Sowjetimperiums war, ist in den 1990er Jahren wegen der Auseinandersetzungen mit seinem Nachbarn Armenien um die Region Bergkarabach immer mal wieder in die Schlagzeilen geraten.
Dass es dort eine sehr lebendige und aufregende Musikkultur gibt, deren Ursprünge tief ins Mittelalter zurückreichen und die Einflüsse der persischen und arabischen Musik aufgenommen hat, hat man lange Zeit gar nicht richtig wahrnehmen können. Klassischer Ausdruck dieser Kultur ist der Mugham, eine Folge von Gesängen, die über einen bestimmten Grundton bzw. eine modale Grundmelodie improvisiert werden. Dazu greifen die Sänger und Sängerinnen auf ein breites Repertoire virtuoser melodischer Formeln zurück. Diese Kunst wird mündlich überliefert und hat sich entsprechend von Generation zu Generation immer wieder verändert. Von der UNESCO wurde der Mugham unter die Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen.

Der 1957 geborene Alim Quasimov steht für einen Brückenschlag zwischen der musikalischen Tradition und Gegenwart. Auf seinen früheren Platten, z. B. der bei Network erschienenen CD „The Art of Mugham“, präsentiert er einen weitgehend dem traditionellen Modell verpflichteten Gesang, den man rezitativisch oder arios nennen könnte. Bei aller Virtuosität und Differenzierungkunst der Mikrointervalle, Schwelltöne, Schwebungen, Glissandi, Triller, Vorschläge, Schleifer, Farb- und Registerwechsel usw. bewegt sich die Musik hier doch sehr nah am Text – meist Liebeslyrik – und in relativ kurzen, hochexpressiven Phrasen. Trotz aller Unterschiede kommt dieser Gesangstils dem wortgezeugten frühbarocken Rezitativ manchmal verblüffend nahe (das begleitende Instrumentarium stützt und umspielt die Singstimme vergleichbar einem Continuo-Bass, gewinnt in den rhythmisch pulsierenden Zwischenspielen aber nur für Augenblicke ein stärkeres eigenes Gewicht).
Später dann hat Quasimov sein Ausdrucksspektrum und das des Ensembles erweitert. Bei seiner phänomenalen Technik und einem Stimmumfang von zweineinhalb Oktaven (bis zum hohen F) lag es nahe, den Mugham neu zu deuten und manchmal auch das eine oder andere Instrument zur Trias von Daf (Handtrommel), Tar (persische Langhalslaute) und Kamancha (Spießgeige) hinzuzunehmen. Zumal es schon seit dem 19. Jahrhundert Versuche gab, den Mugham mit anderen, westlichen Musikformen in Kontakt zu bringen, z. B. mit der Oper und sogar dem Jazz.
Quasimov hat nicht nur größere formale Zusammenhänge in seine Musik integriert, sondern auch seine Tochter Fargana Quasimova in das Ensemble aufgenommen. Sie wurde u. a. von ihrem Vater ausgebildet und beherrscht die Kunst auf dem gleichen Niveau. Dadurch, dass Quasimov den Gesangsstil gleichsam theatralisierte und „opernhafter“ durchgestaltete, bieten sich mehr Möglichkeiten, seine stimmlichen Potentiale auszuspielen und regelrechte Mugham-Minidramen zu inszenieren. Das Herzstück der aktuellen CD, einem Konzertmitschnitt vom Morgenlandfest Osnabrück 2009, ist der über 40 Minuten währende Mugham Bayati Shiraz. Eine Folge von Soli und Duetten, die die beiden Künstler auf der Höhe ihrer gestalterischen Kunst zeigt. Ungewöhnlich an diesem Mugham ist die Bewegung aus dem hohen ins tiefe Register; normalerweise verhält es sich umgekehrt. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten, die Worte klanglich zu formen und in ergreifende Musik zu verwandeln.
Eröffnet wird die Aufführung durch je ein Solo von Fargana Quasimova (Mugham Shustar) und Alim Quasimov (Mahur mugham). Dass der Sänger ab 4:24 für einige Zeit mit einer belegten Stimme kämpft, trübt den bewegenden Eindruck nicht nachhaltig. Das große Thema der Musik ist die Liebe, die sich in mehr oder weniger schmerzhafter Sehnsucht und heftigem Begehren verzehrt, bis sie sich in poetischen, aber dennoch unmissverständlichen Wendungen erfüllt. Der unverkennbare, tief empfundene Schmerzens- und Glückston des Mugham macht ihn auch für westliche Ohren zu einem unmittelbaren Erlebnis. Alim Quasimov und seiner Tochter Fargana gelingt es dabei immer wieder, die beiden Pole Vitalität und Spiritualität in ein spannungsvolles, aber nicht widerstreitendes Verhältnis zu bringen. Das ist großartig und ergreifend!

Neben einer umfassenden Einleitung zu jedem der vier Stücke bietet das englischsprachige Beiheft einen Kommentar mit Umschrift und Übersetzung der gesungenen Texte.



Georg Henkel



Besetzung

Alim Quasimov & Fergana Quasimova: Gesang & Daf
Ali Asgar Mammadov: Tar
Ra’uf Islamov: Kamancha



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