Musik an sich


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MONUMENTALBAROCK AUS PALERMO"
Bonaventura Rubino (17. Jh.) et al: Vespro per lo stellario della beata vergine (1644)

K 617 DDD 2 CD (AD 1994) / Best.Nr. K6170149/2
Barock / Geistliche Musik
Cover
Interpreten:
Ensemble Elyma und
Les Rossingnos de Poznan / Studio di musica antica Antonio II Verso de Palerme / Ensemble Eufonia de Palerme / Ensemble Mille Regretz de Catane / Choer Giovanni Pierluigi da Palestrina de Messine
Maria Christina Kiehr - Adriana Fernandez - Roberta Invernizzi - Andrea Rigotti (Sopran) / Jean Louis Comoretto (Countertenor) / Mario Cecchetti - Laurent Dami (Tenor) / Daniele Carnovich (Bass) / Bartosz Nowaczyk - Jan Monowid - Maciej Straburzynski - Nikolaj Mrugalski (Knaben)
Ltg. Gabriel Garrido

Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition:+++ (das eigentliche Booklet musste wohl dem Katalog weichen, aber die Kurzfassung in der CD-Hülle tuts auch)

UNVERBRAUCHTE KLANGWELTEN: DAS LABEL K 617

Seit 1990 bereichert das kleine lothringische Label die in mancher Hinsicht übersättigte Klassiklandschaft mit originellen Produktionen, darunter echte Ausgrabungen. In MAS NR. 25 habe ich gerade noch die gelungene Inszenierung des Trio die Bassetto gelobt. Da wurde aus gar nicht so spektakulärer Musik für das Bassetthorn, komponiert von Mozarts böhmischen Zeitgenossen, ein regelrechtes Hörspiel: Straßenmusik aus Prag, Glasharmonika inklusive.
Das Trio di Bassetto gehörte von Anfang an zum Interpretenstamm von K 617. Besonderes Aufsehen erregte das Label aber unter anderem durch eine Reihe mit lateinamerikanischer Barockmusik aus den Missionsgebieten. Wie da u. a. abendländische Traditionen mit der indegenen Volksmusik verschmolzen wurde, ist wirklich hörenswert und dürfte bei uns selbst verschlafene Gemeiden von der Kirchenbank reißen. Schön, dass die Aufnahmen gerade sämtlich zum wirklich günstigen Sonderpreis erhältlich sind (Empfehlung: L'or et l'argent du Haut-Pérou, K617038) ... Die "Andenkombos" in unseren Fußgängerzonen bieten da nur einen weichgespülten Abklatsch.
Wer neugierig geworden ist: Soeben ist der Katalog 2003 von K 617 erschienen. Und nicht nur das: Es gibt ihn zusammen mit einer Doppel-CD zum Sonderpreis.

BAROCKES VOLKSFEST

Bei der Aufnahme handelt es sich um eine besondere Produktion: 1994 hat der aus Argentinien stammende Dirigent Gabriel Garrido mit mehreren kooperierenden Ensembles in Palermo ein monumentale liturgische Rekonstruktion unternommen. In der originalen Riesenbesetzung mit 120 Instrumentalisten, Chorsängern und einem guten Dutzend Vokalsolisten wurde Bonaventura Rubinos Marienvesper zu Ehren der sternengekrönten Jungfrau von Palermo nach 350 Jahren wieder aufgeführt. Gemeint ist die Gottesmutter Maria, die man traditionell mit der geheimnisvollen, mit der Sonne und 12 Sternen bekrönten Frau aus der biblischen Offenbarung des Johannes identifizierte (Offb 12,1ff).
1644 wurden 12 Instrumenal-Vokal-Chöre in der Basilika St. Franziskus von Palermo sternförmig gruppiert, um die Besucher während der Eröffnungsvesper geradezu in Musik zu hüllen. Die Klangpracht von Rubinos Komposition verschmolz perfekt mit der überbordenden Festdekoration: die Kirche wurde zum theatrum sacrum, zum heiligen Theater. Ein Spektakel, dass ganz Palermo auf die Beine brachte.

Allein der akustische Glanz von Garridos herrlicher Neuinszenierung reicht aus, um auch den modernen Hörer zu überwältigen. Dabei hat Rubino den riesigen Apparat sehr überlegt eingesetzt. Vom zarten Duett bis zum rauschenden Tutti-Klang aller zwölf Chöre reicht da das dramatische und dynamische Spektrum. Einstimmige Gregorianik fügt sich da ganz natürlich ein. Wobei die Raumklang-Effekte leider nur zweidimensional rüberkommen. Aber das "himmlische Getümmel" kann man trotzdem erahnen.
Was bei Garrido und seinen Musikern besticht, ist der geradezu volksfestlich-beschwingte Ton, mit der die Kompositionen zum Leben erweckt werden. Das paßt hervorragend: Rubinos Musik ist bei weitem nicht so experimentell wie diejenige Claudio Monteverdis (dessen "Marienvesper" gewissermaßen ein Pendant darstellt), sondern bodenständiger, mitunter geradezu volkstümlich, wenn auch nicht ohne Raffinement. Die technisch perfekten, artifiziellen Interpretationen anderer Ensembles transportieren solche Musik zwar auch in überragender Qualität in unsere Zeit. Aber dass man das Gefühl hat, gerade eben dabei zu sein, dass hier nichts rekonstruiert, sondern lebendig musiziert wird - das gibt es selten. Gabriel Garrido hat sein Einfühlungsvermögen schon bei anderen Aufnahmen, z. B. den Opern Claudio Monteverdis, unter Beweis gestellt. Vielleicht ist es sein lateinamerikanischer Hintergrund, der ihn diese Musik so natürlich interpretieren läßt. Hört man z. B. den Psalm Lauda Jerusalem über einem unendlich kreisenden Ciaconna-Bass, dann weiß man, woher die meditativen Taizé-Gesänge kommen müssen. Die das "Original" allerdings nicht erreichen. Das wird hier zudem mit so ansteckender Freude musiziert, dass ich die Repeat-Funktion eingeschaltet habe.

19 Punkte

Georg Henkel

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