Musik an sich


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LEIDENSCHAFTSLOSE PASSION
Johann Sebastian Bach (1685-1750): Johannes-Passion

Naxos DDD (AD 2001/2002) / Best. Nr. 8.557296-97
Barock / Oratorium
Cover
Interpreten:
James Gilchrist (Evangelist), John Bernays (Christus), James Bowmann (Altus) u.a., The Choir of New College Oxford, Collegium Novum, Ltg.: Edward Higginbottom

Interpretation: ++
Klang: +++
Edition: +++

HISTORISCHE AUFFÜHRUNGSPRAXIS ALS EIGENWERT?

Wenn man sich auf der Rückseite der CD-Hülle besonderer Authentizität rühmt, weil nicht nur das Orchester auf historischen Instrumenten spielt, sondern auch ausschließlich Knaben- und Männerstimmen zum Einsatz kommen "wie Bach sie an der Leipziger Thomaskirche genutzt hätte", so muß der Hörer dieser Einspielung einmal mehr enttäuscht feststellen: Authentizität ist nicht alles. Abgesehen von den ganzen gelehrten Streitigkeiten um die Besetzungsgröße des Chores und den anderen Charakter der Knabenstimmen zu Bachs Zeit (in welcher der Stimmbruch wesentlich später einsetzte) muß die Frage erlaubt sein, ob ein solches Konzept schon aus sich heraus Grund genug ist, um der Vielzahl an Einspielungen des Werkes noch eine hinzuzufügen. Denn: Neu ist die Idee bei weitem nicht, Nikolaus Harnoncourt verfolgte sie bereits bei seiner Aufnahme aus dem Jahr 1965 (Teldec, Best.Nr. 2292-42492-2). Higginbottom denkt sie vielleicht noch etwas weiter und wählte als Solisten nur solche, die Mitglieder des Chores sind oder waren.
Aber ein musikalischer Gewinn dieses Konzepts ist nicht auszumachen. Einzig die Choräle sind technisch versiert und zudem ergreifend dargeboten. Alles andere hat man so schon dutzendmal und häufig besser gehört.


DER CHOR IST NICHT ALLES

Vor lauter Fixierung auf den Chor und die Chortradition scheint Higginbottom die Solisten sträflich vernachlässigt zu haben. Nur James Gilchrist liefert als Evangelist eine wirklich gute Vorstellung ab und das erstaunlicherweis auch mit großer Ausdrucks- und Artikulationssicherheit im deutschen Text. John Bernays Darstellung des Christus ist hingegen allenfalls gepflegt bis gediegen zu nennen, aber nicht sonderlich instruktiv.
Ein besonderes Problem stellt, wie zu erwarten war, die Besetzung der Sopranpartie mit dem Knabensopran Joe Littlewood dar: Dessen Stimme ist zwar durchaus klangschön und der Atem reicht hier und da auch mal für längere Läufe aus, aber Beweglichkeit und Geschmeidigkeit fehlen ebenso, wie Ausdrucks- und Gestaltungskraft. So mag dieser Gesang Großmütter zum Ausruf "Allerliebst!" veranlassen. Jedem aber, der diesem Reflex nicht erliegt und die Ohren offenhält, wird schnell klar: Das ist keine Idealbesetzung, auf diese Weise kommt Bachs komplexe und anspruchsvolle Musik einfach zu kurz.
Nicht besser sieht es mit dem Countertenor James Bowman aus: Er, einer der Countertenöre der ersten Stunde, bewegt sich, ähnlich wie Littlewood, hart am Rande des Scheiterns. In der Arie "Von den Stricken meiner Sünden" vermag er sich kaum gegen die begleitenden Oboen durchzusetzen, die Stimme wirkt matt und brüchig. Auch der Bass Colin Baldy läßt eine runde Tongebung vermissen, müht sich aber immerhin um mehr dramatischen Ausdruck.
Lob gebührt hingegen Matthew Beale in der Tenorpartie. Der hat zwar so seine Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, dafür aber keine stimmlichen Probleme.


RÄTSELHAFTE TEMPI, ZERFASERTES SPIEL

In der Gesamtgestaltung und der Orchesterführung wirkt der erfahrene Edward Higginbottom bemerkenswert ratlos. Zwar versucht er die Tempi dadurch voneinander abzusetzen, dass er die Choräle extrem langsam interpretiert, doch fehlt nichtsdestotrotz in den dramatischen Passagen der nötige Zug. Auf diese Weise wird manches bis zur Lächerlichkeit entstellt: Die Sopranarie "Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten" etwa läßt allenfalls an die ganz und gar freudlosen Schritte eines Arthrosepatienten denken. Ähnliches widerfährt dem Stück "Eilt, ihr angefochtnen Seelen". Und die existenziellen Fragen schließlich, die in der Tenorarie "Ach, mein Sinn, wo willt Du endlich hin?" aufgeworfen werden, klingen so gelangweilt gleichgültig, wie die Frage nach Uhrzeit oder Wetter.
Dementsprechend entgleiten Higginbottom auch die großen Chorsätze und Turba-Chöre. Und mag das Collegium Musicum sich mit noch so beachtlichen Einzelleistungen einiger Instrumentalisten mühen, es wird doch kein organisches Ganzes daraus.

Auch für den kleinen Geldbeutel gibt es mittlerweile Alternativaufnahmen, die dem Hörer mehr Freude bereiten werden, als diese "authentische" Interpretation.

8 Punkte

Sven Kerkhoff

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