Delain

Hunter’s Moon


Info
Musikrichtung: Symphonic Metal

VÖ: 22.02.2019

(Napalm)

Gesamtspielzeit: 64:58

Internet:

http://www.delain.nl


Nach dem 2016 erschienenen fünften Studioalbum Moonbathers veröffentlichten Delain ein Livealbum namens A Decade Of Delain – Live At Paradiso, wobei das mit der Dekade ein wenig großzügig zu betrachten ist, datiert die Bandgründung doch aufs Jahr 2002, wenn auch damals noch mit einer anderen Sängerin und eher mit Projektcharakter. Das heutige Aushängeschild Charlotte Wessels stieß hingegen erst 2005 dazu, und 2006 wurde das erste reguläre Studioalbum Lucidity veröffentlicht, so dass dieses offensichtlich den Bezugspunkt für besagtes Zehnjahresjubiläum samt Livemitschnitt des Jubiläumskonzertes abgab.
Der geneigte Anhänger könnte nun, sieht er den Doppel-Digipack Hunter’s Moon im Laden stehen, fragen: Schon wieder ein Delain-Livealbum? Zumindest auf der dem Rezensenten vorliegenden Fassung wird auf dem Backcover die Blu-Ray samt Tracklist zuerst genannt, und die trägt den eigenständigen Titel Danse Macabre – Live At Tivoli Vredenburg. Erst danach kommt die Tracklist der CD, und bei der stellt man fest, dass die zehn Livetracks mit denen der Blu-Ray übereinstimmen, vor selbige aber noch vier neue Studiotracks gepackt sind, von denen der zweite „Hunter’s Moon“ heißt. Wir haben es also sozusagen mit einer neuen Studio-EP mit riesiger Bonussektion zu tun, und es ehrt die Band prinzipiell, dass sie der Versuchung widerstanden hat, den Livemitschnitt auch nochmal gesondert rauszubringen, obwohl dafür durchaus strukturelle Veranlassung bestanden haben könnte, wie wir noch sehen werden.
Widmen wir uns also erstmal den vier Studiotracks. Zum Opener „Masters Of Destiny“ wurde auch ein Video gedreht, und er weicht in seiner grundsätzlichen Anlage nicht vom Symphonic Metal ab, den man von der Band kennt, was auch auf seine drei neuen Kollegen zutrifft, von denen das etwas unauffällige „This Silence Is Mine“ nicht die gewohnte Qualität der Niederländer erreicht, während die anderen drei problemlos auch auf einem regulären Studioalbum hätten stehen können, also nicht etwa ausgelagerter Ausschuß sind. Rauhen Gesang gibt es im Titeltrack, hier offensichtlich von Gitarrist Timo Somers, und in „Art Kills“, hier gasthalber von Twan Driessen beigesteuert. Auch sonst fällt letztgenannter Track strukturell etwas aus dem Rahmen, indem er etwas gitarrenlastiger anmutet, als man das sonst von der Band gewohnt ist („klassische“ Gitarrensoli gibt es in ihrem Schafen gar nicht so sehr oft), und das könnte daran liegen, dass er nicht von Keyboarder/Bandkopf Martijn Westenholt geschrieben wurde, sondern von Gitarristin Merel Bechtold, für die dieses Werk übrigens den Schwanengesang im Delain-Kontext darstellt – sie hat die Band im Sommer 2019 auf freundschaftlicher Basis verlassen, um eigene künstlerische Pfade zu beschreiten, und zumindest auf dem neuen, 2020 erschienenen Album Apocalypse & Chill sind Delain auch ein Quintett geblieben und haben den Zweitgitarristenposten bisher nicht neu besetzt. Für den neuen Drummer Joey de Boer bildet Hunter’s Moon dagegen die Antrittsvorstellung – 2017 beim Konzert saß noch Ruben Israel am Schlagzeug.
Selbiges Konzert scheint eine gewisse Spezialstellung im Liveprogramm der Band markiert zu haben, denn neben dem Stammsextett sind gleich drei Gastmusiker dabei, von denen zwei schon außen auf dem Digipack explizit unter der Tracklist genannt und in selbiger mit Sternchen markiert werden. Dieser Ehre nicht zuteil wurde Elianne Anemaat, die die in den ersten drei Minuten lediglich aus Wessels-Gesang, Streicherflächen und Piano bestehende zauberhafte Ballade „Scarlet“ mit ihrem Cello um eine warme Klangfarbe bereichert. Wie sie ist auch einer der beiden Sangesgäste nur in einem Track dabei: George Oosthoek sorgt im Opener „Hands Of Gold“ in den hinteren Strophen für den deathmetallischen Kontrastpunkt und setzt damit die lange Tradition der Kooperation von Delain und Orphanage fort – Guus Eikens, Gitarrist/Keyboarder der letztgenannten, ist auch Komponist oder Co-Komponist so mancher Delain-Nummer. Unter den zehn Songs findet sich allerdings auch noch eine Nummer komplett fremder Herkunft, und deren Wahl ist definitiv originell zu nennen: Zumindest dem Rezensenten fällt spontan keine andere größere Band ein, die „Scandal“ covert, eine maßgeblich von Brian May verfaßte Nummer vom Queen-Album The Miracle. Kennt man das Original nicht, käme man durchaus nicht auf die Idee, hier eine nicht originäre Delain-Komposition zu hören, so gut haben die Niederländer die Vorlage in ihren ureigenen gemäßigten Symphonic-Metal-Stil umgearbeitet.
Bleibt nun noch zu klären, wer der andere Gastsänger ist, der von den zehn Livesongs immerhin gleich sechs mit bestreitet. Bandkenner dürfte nicht weiter verwundern, dass es sich dabei um Marco Hietala handelt (der neuerdings ja wieder Marko geschrieben werden möchte, hier allerdings noch mit c vertreten ist), denn der war bisher auf nahezu jedem Delain-Studioalbum als Gast für die männlichen Gesangspassagen dabei, und seine Stimme paßt zu derjenigen von Wessels auch erstaunlich gut: Die beiden können farblichen Kontrast erzeugen, wenn es darauf ankommt, aber sie sind auch in der Lage, warme Harmonien hervorzubringen, wobei Hietala mit einigen wenigen Ausnahmen bei bestimmten Zeilenauslauten auf theatralische Einlagen verzichtet und sich auch Wessels überwiegend in ihrer gar nicht so weit von Anette Olzon entfernten Hauptlage aufhält. Wenn wir gerade bei Nightwish-Vergleichen sind: Delain haben zumindest bei diesem Konzert zwei Gitarristen auf der Bühne, aber die Keyboard-Dominanz mutet stärker an als bei den finnischen Stilikonen, die ja erst vor relativ kurzer Zeit mit Troy Donockley zumindest einen Teilzeit-Zweitgitarristen an Bord geholt haben und vorher standardmäßig mit nur einer Klampfe gearbeitet hatten. Wenn Somers und Bechtold gebraucht werden, sind sie natürlich trotzdem akustisch da (das einleitende Thema von „Scandal“ kommt beispielsweise von der Gitarre, bevor Wessels die Melodie aufgreift), und an Grundenergie mangelt es der Aufnahme definitiv auch nicht, wenngleich die intensivsten Momente eher am ruhigen Ende angesiedelt sind: neben dem erwähnten „Scarlet“ noch der elegant schwingende, fast schwerelos anmutende Refrainteil von „Control The Storm“. Für richtige Tempofanatiker bieten Delain natürlich eher wenig – die treibende Oosthoek-Nummer „Hands Of Gold“ bildet da schon die Spitze des Eisberges. Aber das ist eben auch nicht die Zielstellung der Niederländer. Und auch wenn nicht alle zehn Songs ein gleich hohes Level halten können und beispielsweise das finale „The Gathering“ zwar hart und finster rifft, aber etwas zu unauffällig agiert und zudem einen der ganz wenigen Momente darstellt, wo das Duettieren der Sänger nicht richtig funktioniert, so bereitet das Liveerlebnis zumindest ein grundsätzliches Hörvergnügen, und dass Delain eine interessante Liveband sind, hat der Rezensent schon anno 2009 festgestellt, als er sie in Leipzig zum ersten und bisher auch einzigen Mal auf der Bühne erlebte (das war die Tour zum Zweitling April Rain – lese auf www.crossover-netzwerk.de das Review nach, wer Genaueres wissen möchte). Auch das Publikum in Utrecht scheint gut gelaunt gewesen zu sein – wie es beispielsweise vor „Scandal“ das erneute Erscheinen Hietalas auf der Bühne einfordert, das hat schon Charme, ohne Wenn und Aber. Was weniger Charme hat, sind die Bandfotos im Booklet, wo irgendwie alle Mitglieder angespannt, fast ärgerlich wirken, bis auf die einfach freundlich grinsende Merel ...

Auf der Blu-Ray ändert sich das Bild etwas, denn da kommen auch andere Bandmitglieder sympathischer rüber, allen voran Bassist/Rampensau Otto und Charlotte, die live einen reizenden Knuddelbär abgibt (es sollte ihr nur mal jemand sagen, dass der Nasenring ihr nicht zur Zierde gereicht). Dafür gibt es anderweitige optische Probleme: In vielen Songs flackert das Licht extrem grell und läßt vermuten, man befinde sich in irgendeiner Elektrozappelbude – man gewöhnt sich zwar schrittweise ein wenig an das Geflimmer, aber der Weisheit letzter Schluß ist es nicht. Ist man in der Lage, dieses Faktum auszublenden, kann man mit der reichlichen Dreiviertelstunde aber ähnlich viel Spaß haben wie mit der Audiospur, auch wenn völlig kurioserweise die Bewertung der identischen Songs bisweilen ein wenig abweicht: Den Schwingfaktor in „Control The Storms“ nimmt man hier weniger stark wahr, dafür versteht man aber die Gesangsstrukturen in „The Gathering“ besser und erkennt den Hitfaktor dieses Songs deutlicher, auch wenn er nach hinten raus immer noch ein wenig unmotiviert endet. Hingegen verliert George Oosthoek an Wirkung: Sein Grunzgesang verändert sich naturgemäß nicht, aber wenn man den Vokalisten sieht, fällt es schwer, ihn in diesem Kontext ernstzunehmen, erinnert er doch optisch mittlerweile an einen hiphopbeeinflußten NYHC-Protagonisten und benimmt sich auf der Bühne auch wie so einer, was nicht wirklich ins Gesamtbild passen will. Da hat Elianne Anemaat, die übrigens aktuell zusammen mit Oosthoek bei Celestial Season spielt, klar die Nase vorn und Marco Hietala sowieso.
Natürlich haben Delain in besagtem Konzert nicht nur eine reichliche Dreiviertelstunde auf der Bühne gestanden: Ein Blick auf setlist.fm offenbart, dass es nicht nur zehn Songs, sondern deren neunzehn (plus Intro und Outro) gab – auf der Konserve gelandet sind allerdings vom Grundprinzip her alle, bei denen Gäste auf der Bühne waren, plus zwei, bei denen nur das Grundsextett spielt. Das macht den Bildträger naturgemäß ein wenig fragmentiert, aber dieser Umstand fällt nicht weiter ins Gewicht, und man bemerkt ihn in intensiverer Weise eigentlich nur, wenn plötzlich ein anderes Bühnen-Setup herrscht, etwa rings um die Gastcellistin. Die Bühnenrückwand gehört einer großen Grafikwand, auf der verschiedenste Bilder und teilweise auch die Lyrics eingeblendet werden, so dass auch der nicht textsichere Anwesende fehlerfrei mitsingen kann. Das Tivoli entpuppt sich übrigens als klassische theaterartige Veranstaltungshalle mit riesiger Empore, und sowohl die als auch das Parterre sind dicht bestanden. Die Kamera schwenkt hauptsächlich in den hinteren Songs ab und zu mal gen Publikum, entweder als Übersicht oder aber auch einzelne Anwesende fokussierend (der Anteil ausgesprochen hübscher Frauen ist nicht gerade klein). Die Aufnahme scheint übrigens fürs Fernsehen entstanden zu sein, also nicht mit primärer Intention der Veröffentlichung auf Konserve, aber auch eine solche ist natürlich ausgesprochen sinnhaftig, wenn es jetzt nicht noch dazu kommt, dass etwa der komplette Gig auch noch als Einzel-DVD oder -Blu-Ray veröffentlicht werden sollte. Aber solche Absichten scheinen zumindest momentan nicht zu bestehen, so dass der intendierte Bonuscharakter für die EP erhalten bleibt, auch wenn so eben die paradoxe Situation entstanden ist, dass der Bonusteil um ein Mehrfaches länger ist als der „Hauptteil“. Das freilich geht in diesem Falle als pures Luxusproblem durch.

Ein nicht in der Tracklist vermerktes, aber im Menü direkt anwählbares easter egg auf der Blu-Ray bildet schließlich „The Gathering“ in einer weiteren Livefassung, diesmal vom Masters Of Rock in Tschechien anno 2017, wo Delain open air noch bei Tageslicht, aber vor einer großen Zuschauermenge spielten – und spätestens hier, wenn das ganze Gelände zu hüpfen beginnt, begreift man den Hitfaktor dieses Songs dann so richtig ...



Roland Ludwig



Trackliste
1Masters Of Destiny4:54
2Hunter’s Moon4:30
3This Silence Is Mine2:37
4Art Kills4:00
5Hands Of Gold (live)5:24
6Danse Macabre (live)5:28
7Scarlet (live)4:45
8Your Body Is A Battleground (live)4:11
9Nothing Left (live)5:01
10Control The Storm (live)4:24
11Sing To Me (live)5:14
12Not Enough (live)5:35
13Scandal (live)4:10
14The Gathering (live)4:37
Besetzung

Charlotte Wessels (Voc)
Timo Somers (Git)
Merel Bechtold (Git)
Martijn Westenholt (Keys)
Otto Schimmelpenninck van der Oije (B)
Joey de Boer (Dr, 1-4)
Ruben Israel (Dr, 5-14)



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>