Akustische Jenseitserfahrung: Leipziger Universitätsorchester, Leipziger Universitätschor und MDR-Kinderchor führen Brittens War Requiem auf




Info
Künstler: Leipziger Universitätsorchester und Universitätschor, MDR-Kinderchor

Zeit: 07.07.2019

Ort: Leipzig, Peterskirche

Fotograf: Arno Drucker (Wikimedia)

Internet:
http://www.uni-leipzig.de/orchester
http://www.uni-leipzig.de/unichor

Üblicherweise spielt das Leipziger Universitätsorchester seine Semesterkonzerte im Gewandhaus, und die einzigen musikalischen Gäste sind die Solisten, sofern ein Solokonzert auf dem Programm steht. Bisweilen aber finden sich auch Kooperationen auf den Spielplänen, so etwa am Ende des Sommersemesters 2019: Die instrumentalmusizierenden Studenten tun sich mit dem Leipziger Universitätschor und dem MDR-Kinderchor zusammen und realisieren ein Großprojekt, für das sie allerdings auch noch umziehen müssen: Der Große Saal des Gewandhauses bekommt neue Bühnentechnik und steht daher seit Mitte Mai nicht mehr zur Verfügung. Als „Ersatzspielstätte“ fungiert die Peterskirche, eine neogotische Hallenkirche am Südrand der Leipziger Innenstadt, die beispielsweise dem MDR-Rundfunkchor als Heimstätte für seine auf diesen Seiten auch schon rezensierte „Nachtgesang“-Konzertreihe dient und bereits in diesem A-Cappella-Kontext akustisch gewisse Schwierigkeiten aufwirft. Sie bietet natürlich auch weniger Platz als der Große Gewandhaussaal, und so erklingt das Programm des diesmaligen Konzertprojektes am ersten Juliwochenende gleich zweimal; der Rezensent ist bei der zweiten Aufführung anwesend.

Aufgeführt wird das War Requiem op. 66 von Benjamin Britten, eines der Schlüsselwerke der Musik des 20. Jahrhunderts, das sich in bestimmten Gedenkjahren spezieller Beliebtheit erfreut: Am 1. September 2009 etwa hatten die MDR-Ensembles das Werk im Gedenken an die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges 70 Jahre zuvor aufgeführt (siehe zu den Einzelheiten und den grundlegenden Informationen zum Werk das Review dieses Konzertes auf www.crossover-netzwerk.de) – aus der damaligen Besetzung des Kinderchors dürfte nun, 10 Jahre später und damit 80 Jahre nach Kriegsausbruch, wohl niemand mehr mit von der Partie sein, zumindest nicht in der damaligen Position im Kinderchor, wohingegen nicht auszuschließen wäre, dass sich das eine oder andere der damaligen Kinder mittlerweile unter der musizierenden Studentenschaft befindet, also mit dem Universitätschor im vorderen Teil des Altarraums steht oder mit dem Orchester im Bereich davor sitzt. Der Kinderchor wiederum steht rechts oben im vorderen Teil der Empore, was klanglich prima paßt, denn er hat von Britten eine Art ätherische Funktion zugewiesen bekommen, und von dort aus schweben die Klänge förmlich auf die Zuhörer hernieder. Als Dirigent vor dem Kinderchor agiert Frédéric Tschumi, der mit diesem Projekt zum vorläufig letzten Mal im Kontext des Leipziger Universitätsorchesters auftritt – das Hauptdirigat an diesem Abend übernimmt aber Universitätsmusikdirektor David Timm, der enorm raumgreifend arbeitet und versucht, den bestmöglichen Weg durch die Verschlungenheiten der klanglichen Situation zu legen.
Manchmal spielt Timm die Raumakustik dabei sogar in die Hände. Die Ätherik des Kinderchores wurde ja bereits erwähnt, und wenn Alexandra Alt links hinten die strukturell für die Architektur des Gesamtwerkes hochwichtige Glocke anschlägt, so scheint auch dieser Klang irgendwo von weit entfernt aus dem Jenseits herüberzudringen, woselbst sich Wilfred Owen als Dichter der englischen Textteile sowie Millionen von Kriegsopfern ja auch tatsächlich befinden. Tubist Lennart Spuck wiederum entfaltet im zweiten Satz enormes Zerstörungspotential, das gerade dadurch an Wirkung gewinnt, dass man nicht so recht weiß, aus welcher Ecke der bedrohliche Klang jetzt eigentlich gerade kommt. Und dass Timm gekonnt auf der Dramaturgieklaviatur zu spielen weiß, ist bekannt und entfaltet seinen Effekt auch unter den hier vorliegenden Bedingungen – ob die Eindringlichkeit des Kyrie, die perfekt aus dem Ärmel geschüttelte Steigerung im 1. Chorus des Dies irae oder das enorm ätherische Pie Jesu im Finale des Dies irae, das sich ohne Stimmungsabschwächung gegen eine Husterin behaupten kann, das alles überzeugt ohne Wenn und Aber.
Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass die Akustik auch Nachteile besitzt. So wird es enorm schwierig, zerklüftete Passagen darzustellen, weil der Klang sehr ineinanderfließt, und man kann etwa im Offertorium von der wünschenswerten Klangschärfe nur träumen. Dass Könner damit trotzdem umzugehen wissen, zeigt Timm mit dem fragmentierten Lacrimosa – aber auch er stößt häufig an Grenzen. An Textverständlichkeit ist ohne Mitlesen des im Programmheft komplett (und mit Übersetzung) abgedruckten Textes nicht zu denken, und die drei Gesangssolisten müssen sich auch ihre Gedanken machen, wie sie ihre Anliegen angemessen darbieten. Tenor Florian Sievers und Bariton Tobias Berndt gelingt das noch einigermaßen, zumal sie mit den Owen-Gedichten zumeist eher „rezitativische“ Funktionen ausüben und außerdem von der Stimmfärbung her bestens zusammenpassen, so dass auch ihre Duettpassagen eine starke Wirkung ausüben. Deutlich mehr Probleme hat Sopranistin Viktorija Kaminskaite, und das trotz ihrer bekannten Qualitäten. Aber im Dies irae steht sie links hinten neben der Glocke, muß mit enormer Kraft über das Orchester hinwegsingen und dadurch zum einen die Spitzentöne arg forcieren, zum anderen aber bleibt textlich von ihr rein überhaupt nichts übrig. Im Sanctus hingegen agiert sie von vorn, wo man ihre stimmlichen Fähigkeiten viel besser wahrnehmen kann, auch in den Passagen, wo man sich beinahe ins Rheingold-Bergwerk Alberichs versetzt fühlt. Im abschließenden Libera me singt sie wieder von hinten, und rätselhafterweise kommen jetzt auch die Spitzentöne glasklar und unangestrengt, wie man das schon früher erhofft hatte. Auch der Energiefluß klappt an den Stellen, wo es auf ihn ankommt, problemlos, selbst wenn sich der Schall in alle möglichen Richtungen ausbreitet und man wie erwähnt durchaus nicht immer wahrnehmen kann, woher er das Ohr trifft. Aber auch Sievers und Berndt legen in diesem letzten Satz nochmal eine Schippe drauf, was die Eindringlichkeit ihrer Worte betrifft, und nachdem im ersten Satz ein an der Kirche vorbeifahrendes Auto genügt hatte, um die Schlußspannung kippen zu lassen, so schafft am Ende des letzten Satzes der ganze vorbeifließende Verkehr das nicht. Lauter Jubel aus der fast komplett gefüllten Kirche belohnt die Mitwirkenden für eine interessante Aufführung unter schwierigen Umständen. Wer sich selbst ein akustisches Bild machen will: Das Orchester und die beiden Chöre führen das Werk noch zweimal auf, nämlich am 06.09.2019 in der Heilig-Geist-Kirche Heidelberg und am 08.09.2019 in der Stiftskirche Tübingen.


Roland Ludwig



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