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Guru Guru

Live at Rockpalast 1976 + 2004 (Krautrock Legends Vol. 2)


Info
Musikrichtung: Krautrock

VÖ: 26.04.2013 (1976/04)

(WDR / MiG / Intergroove)

Gesamtspielzeit: 122:51


Die Wertigkeit ist eindeutig. Auch wenn das 2004er Konzert seine Stärken hat, ist es letztlich nicht viel mehr als ein hochwertiger Bonus zu dem Eigentlichen, denn das Konzert von 1976 zeigt Guru Guru wohl auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Es wird durch eine äußere Tatsache geradezu zur historischen Aufnahme. Es war das erste Konzert, das in der Rockpalast-Reihe aufgezeichnet wurde.

Guru Guru waren verrückt, abgedreht, wahnsinnig – und genauso kommen sie auf die Bühne – ein schräger Einzug zwischen Narrhallamarsch und Militärparade, alle vier Hippie mäßig gekleidet, langhaarig sowieso, mit Afro oder Latzhose, angesagt von Chef Mani Neumeier als „die praktischte Band Deutschlands“.
Drei Songs lang bleibt man die Hippiekapelle. Die Musik ist relativ normal, streift Südamerika und den Orient, groovt und swingt, woran nicht zuletzt das Saxophonspiel von Roland Schaeffer seinen Anteil hat. Danach kommt das deutsch gesungene „Rattenfänger“, ein durch mitreißende Rhythmik unterlegte naiv moralische Kritik an einem vom TV-Konsum geprägten Lebensstil. Sehr passend: Denn exakt 1976 spielte die damalige Guru Guru-Besetzung in dem TV-Film Notwehr die Rolle der Band Rattenfänger(!), die sich in einem Dorf niederlässt und von den Einheimischen als Gammler bekämpft wird – ein Film mit realen Hintergründen, der noch dazu in dem Dorf gedreht wurde, in dem die Musiker in einer Landkommune zusammenlebten.
Wie weit Guru Guru damals von der normalen Bevölkerung Deutschlands entfernt waren, zeigt ein Blick ins Publikum, das von Neumeier am Ende von „Rattenfänger“ recht ironisch gelobt wird. „Ihr klatscht aber brav. Ihr klatscht wirklich sehr schön brav.“ Und so sieht das brav auf den Bänken sitzende Publikum auch aus. Gut erzogene Schwiegersöhne in ordentlicher Kleidung – und wenn mit Afro, dann gut gepflegt und sauber. Und das ist das Publikum, das zu Guru Gurugeht!! Als Neumeier das nächste Stück als Comic-Musik ankündigt und auf Robert Crump verweist, erscheinen die Anwesenden leicht überfordert. Kein Wunder, dass Neumeier später, als er zum Tanzen auffordert, ergänzt: „Ihr könnt auch im Sitzen tanzen!“
In das recht abgedrehte „Ooga Booga Spezial“ werden nicht nur Teile der Akkordeon-Parts aus dem Quasi-Hörspiel „Das lebendige Radio“ von der damals aktuellen LP Tango Fango übernommen, sondern auch Percussion- und Schlagzeug-Soli integriert. Das relaxte „Tomorrow“ mit Schaeffer an Gesang und Gitarre bietet Erholung und könnte von jeder Americana-Band ins Programm genommen werden. Und dann – nach zwei Stücken, die relativ normal im Stil der ersten drei Stücke dargeboten werden, kommt er…
DER Bandklassiker - erst einmal recht knapp und ohne Vocals, um dem Titelsong des damals aktuellen Albums Platz zu machen, bei dem Neumeier, der normalerweise hinter seinem Schlagzeug hockt, mit dem Miko an der Bühnenkante agiert. Aber nach einigem wilden Solieren kommt „Der Elektrolurch“ dann wirklich. Mani Neumeier erscheint mit Kopfputz und Lurchschwanz. Das Interview findet zwischen ihm und Schaeffer statt. Nach der Frage „Was macht ihr eigentlich, wenn ihr einmal älter seid?“ verstummt die Band, wie auf Platte und die Kamera schwenkt ins hell erleuchtete Publikum, das wie erstarrt da sitzt und offensichtlich nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Brillant!
Nach einem kurzen Moment verfällt die Band in wildes Improvisieren, Neumeier gibt den Feuerschlucker und nach einer kurzen Pause kommt eine Bo Diddley gewidmete rock’n’rollige Zugabe.

Schade, dass das wohl im Umfeld dieses Konzertes aufgenommene Interview nicht einmal zwei(!) Minuten umfasst. Immerhin zeigt es – vor allem in Gestalt von Roland Schaeffer -, dass die Band eigentlich auch wesentlich braver ist, als auf der Bühne zu erahnen ist.

2004 hat sich das Bild grundlegend geändert. Wir erleben eine knackige, wesentlich rockigere Band, die ein sauber produziertes Konzert gibt, groovt, rockt und soliert, dass es eine Freude ist, aber von Wahnsinn und Verrücktsein ist nichts mehr zu verspüren. Und wenn es inszeniert wird, wie z.B. natürlich bim „Elektrolurch“, dem einzigen Stück, das in beiden Sets vorhanden ist, dann wirkt es auch genauso: Inszeniert.
Lediglich das Publikum könnte das Gleiche sein, wie 30 Jahre zuvor – nicht weil es ebenso spießig und brav wirkt, wie 1976; im Gegenteil, das 2004er Publikum geht richtig gut mit. Aber von der Altersstruktur her, könnte der Löwenanteil der Zuschauer auch 1976 schon dabei gewesen sein.

Wenn man aber einmal akzeptiert hat, dass die Musiker, die 1976 Freak-Prototypen waren, 30 Jahre später 30 Jahre älter und erfahrener sind, kann man das zweite Konzert als tolles Rock-Konzert mit vielfältigen Einflüssen genießen. Insbesondere Roland Schaeffer mit seinen Soli auf Gitarre, Saxophon und Nadaswaram begeistert nur noch. Spitze!



Norbert von Fransecky



Trackliste
WDR-Studio L, Köln, 4. Juni 1976 (76:41)
1 Einmarsch (0:56)
2 Salto Mortadella (3:30)
3 Banana Flip (5:24)
4 L. Torro (5:48)
5 Rattenfänger (4:45)
6 Ooga Booga Spezial (14:08)
7 Bossa nova (6:50)
8 Night Bear (8:49)
9 Tomorrow (6:13)
10 Medley: Elektrolurch-Mutation / Tango Fango (15:13)
11 Medley: Woman Drum / All you want (4:28)

Harmonie, Bonn, 21. Dezember 2004 (44:25)
1 Red Air (3:13)
2 Il Maestroso (3:33)
3 Living in the Woods (6:12)
4 Izmiz (7:55)
5 Tribes & Vibes (3:01)
6 Kleines Pyjama (4:38)
7 Moshi Moshi (3:39)
8 Incarnation Stomp (5:10)
9 Elektrolurch-Mutastion (6:55)

Interview (1:45)
Besetzung

Mani Neumeier (Dr, Voc, Perc)
Roland Schaeffer (Sax, Git, Voc, Nadaswaram <2004>)
Josef Jandrisits (Git <1976>, Voc <1976>)
Luigi Archetti (Git <2004>, Voc <2004>)
Jogi Karpenkiel (B <1976>, Voc <1976>)
Peter Kühmstedt (B <2004>, Voc <2004>)




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