Musik an sich


Reviews
López, F. (López, F.)

Through the Looking-Glass


Info
Musikrichtung: Neue Musik Konkrete Musik

VÖ: 19.06.2009

(Kairos / Harmonia Mundi 5 CD / DDD / 1993-2008 / Best. Nr. 0012872KAI)

Gesamtspielzeit: 310:50



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Akustische Feldaufnahmen unterschiedlicher Orte und Situationen dienen als Ausgangsmaterial für Francisco López‘ (geb. 1964) Klang-Transformationen. Der Künstler zeigt sich fasziniert von der „Erschaffung und figürlichen Konstruktion von virtuellen Erfahrungswelten, die außerhalb der räumlichen, zeitlichen und materiellen Substanz der Wirklichkeit liegen“ (López). Dazu sammelt er in einem ersten Schritt die mehr oder weniger vertrauten natürlichen oder technischen Umweltgeräusche, um diese dann in einem zweiten Schritt durch elektronische Überarbeitung, Schnitte, Schichtung und Überblendungen in andere musikalische Wirklichkeiten zu verwandeln.
López löst die Klänge und Geräusche aus ihrer natürlichen Umwelt heraus, und präpariert sie so, dass sie als reine akustische Phänomene wahrgenommen werden können. So verweisen sie nicht mehr auf irgendetwas Anderes (z. B. Geräusche von fallenden Wassertropfen werden als Regen identifiziert), sondern stehen für sich selbst als komplexes, zugleich abstraktes klangliches Phänomen (der Regen wird zu mikrorhythmischem Trommeln, Pulsieren und Rauschen).

Der Abstraktionsgrad ist unterschiedlich hoch. Auf CD 1 La Selva (1997), lässt sich (noch) jederzeit ein tropischer Regenwald während der Regenzeit identifizieren. Zugleich wird diese Szenerie durch den Hyperrealismus der technisch eindrucksvollen akustischen Nahaufnahmen ins Phantastische vergrößert und verzerrt.
Vogelgesänge, Gewitterdonner, Regen- und Wasserrauschen, Tierlaute, Grillenzirpen, Insektensummen und anderes verwandeln sich in Kurzwellen, Morsezeichen, Sinuskurven, Klangfarben- und flächen, Cluster, rhythmische Gitter oder konkrete „Minimal-Music“. Dies alles befindet sich in ständiger Neukombination, „Entwicklung“ und „Variation“ und wurde atmosphärisch dicht verzahnt, so dass es in seiner elementaren Klanggewalt manchmal geradezu bedrohlich wirkt.
Man denkt spontan an Musik der 1960er Jahre, beispielsweise von Ligeti oder Penderecki. Nicht immer ist man sich sicher, ob die Klänge noch original oder schon in einer subtilen Bearbeitung zu hören sind. Was ist da wirklich los?
La Selva ist eine Gratwanderung, die das Hören immer wieder in einen Schwebezustand zwischen „natürlicher“ und „virtueller“ Realität führt. Für mich bei dieser Edition mit das gelungenste Beispiel für López Kunst. Nicht immer gelingt es dem Komponisten, die Spannung so zu halten wie in diesem Fall.

Belle Confusion (1996), das ebenfalls Umweltaufnahmen aus ganz verschiedenen tropischen Gegenden verarbeitet, gibt sich im Vergleich mit La Selva wesentlich eindeutiger, da es von vornherein abstrakter formatiert wurde. Vielleicht wirkt es deshalb auch monolithischer und – trotz der Fremdartigkeit seiner Sounds - weniger geheimnisvoll.
Die Quellen der Klänge sind für den Hörer nicht mehr identifizierbar. Er vernimmt Klangkonstellationen ohne klar identifizierbare Bedeutung. Was er wahrnimmt, könnte auch technischen Ursprungs sein oder völlig synthetisch produziert. So ist die schöne Konfusion, von der der Titel spricht, das Ergebnis einer Transformation, die eine neue akustische Realität hervorbringt, deren Ursprung im Dunkeln liegt. Leider geht dies auf Kosten jener Ambivalenz, die La Selva so reizvoll machte.

Die übrigen drei CDs bewegen sich im Wesentlichen zwischen diesen Extremen relativer Kenntlichkeit und totaler Metamorphose. Buildings [New York] (2004) mischt die mechanischen Geräusche von Aufzügen und Klimaanlagen mit weniger eindeutigen „organischen“ und „anorganischen“ Schallquellen. Wie auf den beiden anderen CDs, so erfordert auch dieses gut einstündige Hörstück eine meditative, konzentrierte Rezeptionshaltung, um die feinen Klangtransformationen und Übergänge (z. B. von „Flächen“- oder „Wellen“-Klängen hin zu distinkteren „Teilchen“-Strukturen) zu beobachten.
CD 4 und CD 5 sind da mit zum Teil wesentlich kürzeren Tracks einfacher zu überschauen. Qal’at Adb’al-Salam (1993) und O Parladoiro Desamortuxado (1995) kombinieren kontrastreiche, dynamische Szenerien von drei bis 11 Minuten Länge. Die drei Untitled-Stücke (2008) auf CD 5 bewegen sich zwischen den Extremen: an der Grenze zum Verstummen und totalem Stillstand wie untitled #217 oder unterbrochen durch harte Schnitte und die Einbeziehung unbearbeiteten Materials eines López-Kollegen wie untitled #219.

Mit diesen Kompositionen in der Tradition der Konkreten Musik kann man lernen, neu zu hören.



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 La Selva 70:49
CD 2 Belle Confusion 51:32
CD 3 Buildings [New York] 69:04
CD 4 Qal’at Adb’al-Salam / O Parladoiro Desamortuxado 68:46
CD 5 unitled #217-#219 50:39
Besetzung

Francisco López: Produktion, Klangtechnik und Schnitt


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