Musik an sich


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Champion, N. u. a. (Schmelzer)

La Magdalene. Der Kult um Maria Magdalena im frühen 16. Jahrhundert Renaissance Ensemble


Info
Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 19.06.2009

(Glossa / Note 1 / CD / DDD / 2008 / Best. Nr. GCD P 32104)

Gesamtspielzeit: 76:24



FLAMBOYANT!

Graindelavoix gehört gegenwärtig zu den interessantesten und innovativsten Ensembles für Musik des Mittelalters und der Renaissance. Jede neue Aufnahme stellt routinierte Interpretations- und Hörgewohnheiten in Frage. Das bei Musik zwischen 1200 und 1600 kultivierte notengetreue, auf größtmögliche Reinheit abzielende Klangbild entpuppt sich da mehr und mehr als lediglich eine „authentische“ Aufführungsmöglichkeit. Und vielleicht handelt es sich überhaupt um eine ästhetische Fiktion: So wurden und werden diese Stücke heute musiziert. Aber zu ihrer Entstehungszeit?
Einer möglichst puren Abbildung der gedruckten Fassung stellt Graindelavoix seine sehr viel offenere, „unreine“ Interpretationspraxis gegenüber. Dabei beruht der zunächst experimentell anmutende Zugang, z. B. die Besetzung mit Profi- und Laienstimmen, die überbordenden Verzierungen oder eine regelrechte Orchestrierung durch ausgesprochen individuelle vokale Timbres auf der intensiven Quellenforschung des Ensembleleiters Björn Schmelzer.
In den Essays zu den Aufnahmen stellt Schmelzer jeweils seine Forschungs-Ergebnisse zur Aufführungspraxis vor und bettet überdies die ausgewählten Kompositionen in einen größeren geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext ein. Das Niveau seiner Ausführungen geht weit über den traditionellen Booklet-Text hinaus. Es handelt es sich um (gut lesbare) kunst- und musikwissenschaftliche Beiträge.

Exemplarisch wird dieser Anspruch auch bei der jüngsten Produktion eingelöst: La Magdalene. Der Kult um Maria Magdalena im frühen 16. Jahrhundert. Weit zieht Schmelzer die Linien aus, um die ebenso prominente wie schillernde Figur der Heiligen Maria Magdalena im Kontext der kontroversen prä-reformatorischen und humanistischen Exegese Gestalt gewinnen zu lassen. Handelt es sich nicht, so ein humanistischer Gelehrter, in Wahrheit um drei verschiedene Frauen, die erst später zu der einen Maria vereinigt wurden? Seinerzeit ein durchaus riskanter Einwurf, legte er doch die Axt an die Wurzeln der traditionellen Frömmigkeit. In dem Streit um die „wahre“ Maria Magdalena konnte aber nicht nur mit Traktaten, sondern auch mit musikalischen Mitteln Position bezogen werden.

Dabei entpuppt sich die vollständig eingespielte Messe Missa de Sancta Maria Magdalena von Nicolas Champion nicht nur als subtiler theologischer Kommentar zugunsten des traditionellen Magdalena-Bildes, sondern – unabhängig von der großartigen Interpretation – als musikalisches Meisterwerk, das vergleichbaren Stücken Josquin des Prez in nichts nachsteht. Vollends überwältigt wird man als Hörer freilich durch die wahrhaft flamboyante Darbietung des Ensembles. Selbiges steigert den latenten Manierismus dieser ausdrucksvollen, für Kenner komponierten Musica reservata durch improvisierte Ornamente, die die vokalen Linien „kräuseln“ und der Musik einen chromatischen Schimmer verleihen. Ein Schimmer, der an die vielfach gebrochenen Blau-Rot-Violett-Töne gotischer Glasfenster erinnert.
Unüberhörbar sind weiter die Parallelen zu den elaborierten Maltechniken der Zeit. Die kontrapunktische Verflechtung der Linien ist nur eine Dimension dieser Musik und erschließt sich vor allem in der Lektüre. Bei einer Aufführung sind nicht weniger wichtig die steten Metamorphosen der Klangfarben, die Ausbildung harmonischer „Felder“ oder Weichzeichner- und Hell-Dunkel-Effekte, die der Musik ausgesprochene Sinnlichkeit, aber auch einen überreifen Hautgout verleihen. Die nasale oder krähende Tongebung einiger Singstimmen dürfte für viele Hörende zunächst gewöhnungsbedürftig sein; sie erinnert eher an den Spaltklang von Renaissance-Bands. Schmelzer schreibt von den geradezu neo-gotischen Stiltendenzen der damaligen Kunst, in der traditionelle Elemente ohne Funktion in manierierter Übersteigerung begegnen. Den Eindruck einer phantastisch wuchernden „modernen Archaik“ erweckt auch Champions Messe.

Champions Komposition wurde von Graindelavoix durch einstimmige gregorianische Gesänge zu einer vollen Messe ergänzt. Diese Vorlagen werden durch akkordische Falsobordone-Techniken perfekt in den Corpus der Champion-Messe eingepasst. So möchte man diese alten Gesänge viel öfter hören: kultiviert rau und dunkel, aber auch mit hymnischer Kraft gesungen.
Zeugnisse für den Facettenreichtum des Magdalena-Kults bieten die Chansons und Motetten im zweiten Teil des Programms. Hier kommen nicht nur einige Solist/innen zu Wort, sondern es treten auch Instrumente hinzu, die nicht weniger einfallsreich mitmischen als die Stimmen.

Eine Platte, die nicht nur einen vernachlässigten Komponisten wiederentdeckt, sondern Maßstäbliches zur Aufführungspraxis der Renaissance beiträgt. Die Interpretationen sind elektrisierend, das Klangbild ist präsent. Sehr gut sind die Edition und Präsentation (man hätte gerne noch mehr von den im Essay erwähnten Kunstwerken unter den Abbildungen gesehen). Die gesungenen Texte werden auf der Homepage des Labels in diversen Übersetzungen zum Runterladen angeboten.



Georg Henkel



Trackliste
I. AD MISSAM
Missa de Sancta Maria Magdalena von Nicolas
Champion (c.1475-1533) & Gregorianik

II. CHANSONS DE LA MAGDALENE
Anonymous: O waerde mont
Pierre Blondeau: La Magdalena, basse danse
Anonymous: Maugré danger pompera Magdalene
Claudin de Sermisy: Joyssance vous donneray
Anonymous: Se j’ayme mon amy
Anonymous: Tous nobles cueurs, venez...
Besetzung

Olalla Alemán, Patrizia Hardt, Silvie Moors: Superius
Yves Van Handenhove, Marius Peterson, Paul De Troyer, Lieven Gouwy: tenor
Thomas Vanlede, Arnout Malfliet, Antoni Fajardo: bassus

Jan Van Outryve: Laute und Cittern
Floris De Rycker: Laute und Renaissance-Gitarre
William Taylor: Harfe
Thomas Baeté: Gambe
Liam Fennely: Gambe

Björn Schmelzer: Tenor & Leitung


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