Musik an sich


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Xenakis, I. (Tamayo)

Orchesterwerke 5


Info
Musikrichtung: Neue Musik Orchester

VÖ: 01.06.2008

(Timpani Records / Note 1 / DDD 2006/ Best. Nr. 1C1113)

Gesamtspielzeit: 59:47



AUFWÜHLENDER KONSTRUKTIVISMUS

Der Komponist Iannis Xenakis (1922-2001) hatte seine Wurzeln in der Mathematik und (als Assistent Le Corbusiers) in der Architektur. Auf Anraten seines Lehrers Olivier Messiaen verzichtete er bei seinem Musikstudium auf die klassische Tonsatzlehre und schrieb seine unorthodoxe Musik auf der Grundlage mathematischer und architektonischer Techniken und Vorstellungen.
Frei nach dem Motto, dass Architektur geronnene Musik sei, ließ er sich u. a. von konkreten Bauwerken zu seinen Kompositionen anregen und umgekehrt. Ein berühmtes Beispiel ist der Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958, bei dessen Entwurf Xenakis auf Skizzen zu seinem Stück Metastaseis zurückgriff, um die rasant kurvigen Formen und Proportionen des Bauwerks zu entwickeln.
Die klassischen Zutaten der Musik - Thema, Harmonie oder Rhythmus - wurden bei Xenakis ersetzt durch differenzierte Klangformationen und ihre Kombination nach z. T. stochastischen Regeln: Flächen, Sphären, Ströme, Knäuel oder Schwärme aus Tönen oder Tonkomplexen, Klang- und Instrumentaleffekten (z. B. Klopfgeräusche der Streicher) bevölkern seine Partituren. Sie erzeugen Räume oder Texturen, die zu musikalischen Baukörpern montiert werden oder, wie im Fall kurvender Streicher-Glissandi oder Cluster, selbst schon wie architektonische Elemente – Kurven, Bögen beispielsweise – wirken. Anderes scheint wiederum direkt von der modernen Physik oder Astronomie inspiriert: Klangereignisse verhalten sich wie Plasma im Teilchenbeschleuniger; Tonwolken ahmen die Bewegungen und Formen von Galaxien nach.
Um die Verteilung seiner Klangelemente zu organisieren, arbeitete Xenakis auch mit Computern. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung nahm dem Komponisten die Einzelentscheidung ab: Er bestimmte die Elemente und das Volumen, die Anordnung kam aus dem Rechner. Der Hörer nimmt wechselnde Texturen und „Körper“ wahr, die sich auch überlagern oder ineinander übergehen können. Die Musik gestaltet den akustischen Raum, staucht und spreizt ihn, wölbt ihn durch Anstieg von Dynamik und Dichte aus oder zieht ihn auf ein enges Klangband zusammen. Das Ergebnis ist, bei aller vordergründigen „Hässlichkeit“ und dem hohen Anteil von Geräuschen, eine „griffige“ und packende Musik, die um manches fasslicher ist, als das, was auf Seite der Seriellen Musik in den 50er und 60er Jahren entstand. Knallharter Konstruktivismus paart sich bei Xenakis mit archaischer Sinnlichkeit voll scharfer Kontraste und Brüche.

Seit einigen Jahren legen Aturo Tamayo und das Philharmonische Orchester Luxemburg die Orchesterwerke Xenakis beim Label Timpani in maßstabsetzenden Intpretationen vor. Auch klanglich und editorisch stellt dieser Zyklus die erste Wahl dar.
Inzwischen ist die Truppe bei Teil 5 angelangt. Hier findet sich neben dem epochalen Frühwerk Metastaseis von 1955 für Streicher und Schlagzeug auch weitere Klassiker wie Phitoprakta. Beide Stücke führen die unterschiedliche Organisationsmöglichkeiten von „Klangmassen“, bestehend aus unterschiedlichen Glissandi oder Pizzicato-Wolken, vor.
Dagegen sind Achorripsis und ST/48-1,240162 konsequent stochastische Stücke, bei denen Auftreten und Kombination aller Ereignisse vorher durchgerechnet wurden. Hier treten die Einzelelemente wieder stärker als vernehmbare Details in den Vordergrund. Die Musik wirkt dadurch aber auch viel spröder, gleichsam grobkörniger, als bei den ersten beiden Werken.
Eine Synthese von Großform und Detail stellt Syrmos dar, das im Wesentlichen aus auf- und absteigenden oder sich kreuzenden Glissandi besteht. Dass Xenakis nicht nur im Raum klanglicher Abstraktion komponierte, demonstriert das in klar unterscheidbare Abschnitte untergliederte Hiketides, das auf seiner ursprünglich für Chor und Orchester komponierten Bühnenmusik für die gleichnamige Aischylos-Tragödie beruht.
Was bei den Einspielungen besonders gefällt, ist der unakademische Zugriff. Auch Xenakis war alles anders als ein Technokrat. Und so erlebt man hier seine diffizilen Partituren in erster Linie als aufrührerisches und oft auch aufwühlendes musikalisches Ereignis.



Georg Henkel



Trackliste
1Metastaseis /1954)7:35
2 Phitoprakta (1956)10:35
3 St/48 (1956)10:40
4 Achorripsis (1957)6:38
5 Syrmos (1959)12:16
6 Hiketides (1964)12:03
Besetzung

Philharmonisches Orchester Luxemburg
Ltg. Aturo Tamayo


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